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Final Cut - Etzold, V: Final Cut

Final Cut - Etzold, V: Final Cut

Titel: Final Cut - Etzold, V: Final Cut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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einen Hauch von Verwesung, Blut und Schmerz ins Gesicht blies.
    Sie hatte die Wohnungstür erreicht, die mit aufgesprengtem Schloss in den Angeln hing, während zwei MEK-Beamte das Wohnzimmer zur Rechten, einer das Bad zur Linken sicherte und Marc und Philipp den Korridor durchquerten.
    Clara schaute sich um. Die typische Wohnung einer jungen Frau, vielleicht Studentin, vielleicht in ihrem ersten Job in der großen Stadt. Poster von der New Yorker Skyline auf dem Flur; daneben eine Schwimmweste von British Airways, die sie selbst oder ein Freund offenbar aus einem Flugzeug entwendet hatte und die jetzt als Trophäe neben dem Poster hing.
    »Nichts«, rief der eine MEK-Mann aus der Küche.
    »Nichts«, meldete der andere sich aus dem Wohnzimmer.
    Kurzer Blick nach links. In der Küche ein kleiner Esstisch, Weinflaschen, auf einem Regal geordnet. Kurzer Blick nach rechts. Sofa, Couchtisch, sofern es im diffusen Licht der Dämmerung auszumachen war. Ein Schreibtisch mit Stuhl, daneben ein Regal mit Büchern. Eine Zimmerpalme mit ausladenden Blättern am Fenster. Auf einer Anrichte Urlaubsfotos.
    Die zerkratzte Tür am Ende des Flurs war geschlossen wie ein Mund, der die Wahrheit nur dann ausspricht, wenn er gewaltsam geöffnet wird. Wenn es in dieser Wohnung irgendetwas gab, was man nicht sehen sollte, dann versperrte diese Tür beinahe trotzig den Blick auf das, was sich hinter ihr befand.
    Marc, der direkt an der Tür stand, machte ein Zeichen, worauf Clara und Winterfeld sich ins Wohnzimmer zurückzogen, während Philipp, der ebenfalls im Flur stand, sich gegen die Wand drückte. Es konnte sein, dass jemand sich im Schlafzimmer aufhielt und durch die Tür feuerte; deshalb musste der Flur frei sein, wenn die Beamten die Tür aufbrachen.
    Philipp blickte Marc an. Als der nickte, drückte Philipp die Klinke nach unten, stieß die Tür auf und sprang zurück, als sie nach innen schwang. Beide warteten, die Gewehre ins Zimmer gerichtet. Eine halbe Ewigkeit verging, aber drinnen rührte sich nichts.
    Marc sah Philipp an und wies mit dem Kopf in Richtung Zimmer. Marc war der Boss, aber allwissend war er nicht.
    Rein?
    Philipp nickte.
    Rein.
    Beide verschwanden im Zimmer. Clara spürte wieder den sauren, beißenden Geschmack in ihrer Speiseröhre. Marc und Philipp waren Profis; zusammen mit ihnen hatte sie den Werwolf hochgenommen, und der war eine Klasse für sich gewesen. Trotzdem war die Ungewissheit auch nach fünfzehn Dienstjahren schwer zu ertragen – die Frage, was sich hinter einer Tür verbarg, die in eine andere Welt führte. Eine Welt aus Angst und Schmerz und Blut und Tod.
    Clara wartete.
    Eine Sekunde. Zwei. Drei.
    Mein Gott, was war da drin los?
    Fünf Sekunden. Sechs.
    »Scheiße!«, rief Marc plötzlich. Dann noch einmal: » Scheiße! «
    »Was ist?«, rief Winterfeld.
    »Müsst ihr euch selbst ansehen.«
    Clara atmete durch und betrat das Schlafzimmer.
    Gestern war ein besonderer Tag gewesen.
    Gestern hatte sie wieder daran gedacht, dass sie vor zwanzig Jahren an genau diesem Tag ihre kleine Schwester zum letzten Mal gesehen hatte.
    Gestern hatte sie zum ersten Mal Post von einem Killer bekommen, an sie adressiert.
    Und gestern hatte sie zum ersten Mal einen Mord auf CD-ROM gesehen.
    Doch was sie jetzt sah, war jenseits von allem, was sie erwartet hatte.
***
    Clara kannte den Geruch des Todes – aber hier gab es nichts dergleichen. Allenfalls den schwachen Geruch von altem Leder, das ein wenig angefault war.
    Und den leichten, zitronenartigen Geruch nach Insekten.
    Und dann sah sie die Käfer.
    Sie krabbelten im ganzen Zimmer umher – auf dem Boden und auf dem Bett, auf dem Schrank, dem Nachttisch, dem Stuhl, dem Deckenstrahler.
    Und auf der Leiche, die auf dem Bett lag.
    Aufgrund der Physiognomie vermutete Clara, dass es sich um eine Frau zwischen zwanzig und dreißig handelte. Die Gesichtshaut war völlig ausgetrocknet und spannte sich wie dünnes Pergament über den Wangenknochen, und die Zähne unter den geschrumpften Lippen waren zu einem grässlichen Grinsen gebleckt. Einzig die blonden Haare erinnerten Clara noch an die Person, die sie auf dem Video gesehen hatte.
    Die Augen der Toten waren zu gelblichen Eiweißklumpen geschrumpft und starrten aus halb leeren Höhlen zur Decke. Der Oberkörper war vom Hals bis zum Bauch aufgeschnitten; die Enden der abgetrennten Rippen ragten aus der offenen Brusthöhle wie die Planken im Rumpf eines versunkenen Schiffes. Ein Nebel aus weißlichen, watteartigen

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