Finne dich selbst!
Jedenfalls meine. Dann wurden wir in die Schlitten gebeten. Wir saßen auf Rentierfellen. Und los ging es über verschneite Hügel. Ich träumte von Tonttus. Schnee rieselte von den vereinzelt stehenden Fichten. Die Tiere trabten, leckten im Vorübergehen Schnee auf oder koteten. Erstaunlich, dass so große Tiere nur so kleine Köttel kacken.
Nach einer gefühlten Stunde waren wir von der Runde durch den Wald zurück. Die meiste Zeit war im Grunde mit dem Anlegen der Winterkleidung vergangen. Wir standen in einem Holzhaus. Feuer brannte. Zeit für Kaffee, für Informationen und Fragen. Mikka erzählte von der Rentierhaltung. Bei den Rentieren tragen auch die Weibchen Geweihe. Die werfen ihre Geweihstangen später ab als die Männchen, denn sie brauchen sie, um die Jungtiere zu verteidigen. In der Rentierwirtschaft wird das ganze Tier genutzt. Aus dem Fell werden Handschuhe und Stiefel gefertigt. Ein großer Teil dieser Produktion geht mittlerweile an die Touristen.
Die Kalbungszeit der Rentiere liegt im Mai und Juni. Die Kälber folgen der Mutter sofort. Ein Jahr etwa wird das Junge gesäugt. Bis dahin laufen die Tiere frei. Das ist natürlich super, man muss nicht füttern, man muss nicht nach der Weide schauen, kein Tier kann ausbrechen, sie sind ja schon draußen. Das einzige Problem ist, dass man sie wiederfinden muss. Das kann dauern. Inzwischen werden die Tiere mit Hilfe von Squads und Enduros zusammengetrieben, manchmal helfen sogar Hubschrauber bei der Suche.
Wenn der Finne ein Rentierhirte ist, weiß er sein Finnenmesser besser zu gebrauchen als der Gefäßchirurg das Skalpell. Er schneidet damit Ohrmarken, Schnitte und Einkerbungen in das Ohr der Kälber als Eigentumszeichen. Die Eigentumsverhältnisse ins Ohr zu schneiden ist eine jahrhundertealte Tradition. Das Markieren der Tiere ist eine Kunst. Mich erinnert das schon an Kalligraphie, an chinesische Schriftkunst. Nur dass hier der Finne eben mit dem Messer zu Werke geht und zum Beispiel Halbmonde und Keile herausschneidet. Ein Kalb wird mit derselben Markierung versehen, die auch die Mutter trägt. »Markieren kannst du nicht allein. Ein Mann setzt sich auf das Kalb und hebt dessen Vorderbeine an. Dann liegen sie ruhig, das ist wie bei den Katzen die Katzenstarre, wenn das Muttertier das Junge im Nacken packt, damit es sich tragen lässt.«
Rentierzüchter haben ein geübtes Auge. Es ist für mich kaum vorstellbar, die Schnittmarkierung zu erkennen, wenn die Rentiere in oft hohem Tempo vorbeirennen. Die Samen erkennen diese Ohrmarken schon von weitem. Eine unglaubliche Leistung. Wie lernt man, diese Zeichen zu lesen und zu schreiben? Wird das unterrichtet? Gibt es quasi die Orthographie für das Rentierohr? Man hat sich doch ganz schnell verschrieben! Wie soll man am Rentierohr noch was korrigieren? Ich frage Mikka.
»Eigentlich lernt man es schnell. Schon als Kind. Wir üben manchmal. Mit Apfelsinenschalen.«
Ich habe später am Abend bei Lilja ein Oval aus einer Apfelsinenschale ausgeschnitten und versucht, sie mit einem Muster meiner Wahl zu kennzeichnen. Das war schon schwer. Dieses Muster identisch in eine zweite Schale zu schneiden, ist mir auch im siebten Anlauf nicht gelungen! Aber auch hier halten die Moderne und der Computer Einzug. Man verwendet vielerorts schon Plastikmarken. Heute ist praktisch jedes Rentier im PC erfasst.
Es gibt immer weniger nomadisierende Rentierwirtschaft, in Finnland ist sie immer mehr stationär. Der Berufszweig hat einen immensen Wandel erlebt. Mit der Einführung des Motorschlittens änderte sich die Rentierzucht extrem. Früher hatte man Schlitten, die von zahmen Rentieren gezogen wurden. Heute gibt es GPS , Handys und Lesegeräte für die Ohrmarken. Trotzdem wollen nur wenige weiter in der Rentierwirtschaft tätig sein. Viele Rentierhirten finden keine Frauen, die dieses harte Leben teilen wollen. Es ist sicher nur eine Frage der Zeit, bis im finnischen Fernsehen neben dem schon erfolgreichen »Finnlands next Superstar« auch »Rentierzüchter sucht Frau« anläuft.
Wir bekommen nun, am Ende unserer Rentierschlittenfahrt, sogar einen Rentierführerschein ausgestellt. Ich bin nicht ganz zufrieden. Ich habe schließlich nicht einen Meter selbst gelenkt, nicht einen Schneehaufen umfahren, ich kann weder Kufen wechseln noch rückwärts einparken. Aber egal. Dieser Führerschein gilt international. Im letzten deutschen Winter, als mein Auto nicht ansprang, fiel er mir wieder ein. Aber es fehlt in Deutschland
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