Finne dich selbst!
»Hier!« Kein Fluch bei Fehlversuch. In stoischer Ruhe und Stille, mit beinah religiöser Ernsthaftigkeit wurde hier der Torschuss zelebriert. Ich dachte an das Geschrei unserer Fußballer zwischen Kreisklasse und Bundesliga, egal ob im Training oder im Spiel. Der Finne redet eben nicht so viel, und schon gar nicht schreit er herum. Nirgends!
Ich wanderte weiter zum See. Mitten auf der Eisfläche des Vesijärvi zog ein Skilangläufer seine Spur. Die Restaurantschiffe waren geschlossen. Nur ein Café hatte geöffnet. Langsam schlenderte ich zurück. Im Hausflur traf ich Aapo. Der lachte, als er mich sah, den Deutschen, den
saksalainen.
»Es ist sehr warm geworden in Finnland«, sagte er mir.
»Warm? Wieso warm?«, fragte ich.
»Ich hab gerade Fernsehen gesehen. Wetternachrichten. In Berlin sind es mittags minus zehn Grad gewesen, in Helsinki aber nur minus sieben. Du bist also wohl aus Deutschland geflüchtet, um mal ins Warme zu kommen?«
Ich sagte ihm, morgen würde es nach Lappland gehen. In die Kühltruhe Europas. Ich stieg deutlich in seiner Achtung.
Akseli und ich verabschiedeten uns am Morgen um 6 Uhr. Ich musste zum Bus. Wir tranken noch einen Kaffee. Dann stapfte ich los. »Guten Flug nach Lappi«, rief er mir hinterher. »Und fall nicht vom Schlitten!«
Im Flughafen Helsinki erwartete mich eine echte Überraschung. Auf den Flug in die Wärme, nach Teneriffa, warteten etwa 40 bis 50 Menschen. Nach Lappland, nach Ivalo, flogen mindestens 300 . Nun ging es los. Richtung Dunkelheit und Kälte. Nach der Landung holte ich meinen Mietwagen ab und fuhr durch die dunkle, verschneite Landschaft. Es war 16 Uhr, tiefste Nacht hier im Norden. Am Kreisel überraschte mich ein Schild: Murmansk – 340 Kilometer. Alle Schilder waren zweisprachig, Finnisch und Samisch. Immer zwischen etwa elf und vierzehn Uhr herrscht hier in Lappland eine milchige Dämmerung, davor und danach ist eine etwa einstündige Übergangszeit. Ich versuche mir Lappland vorzustellen, bevor es Straßenbeleuchtung gab. Hier ist das Land der Sami mit ihren Rentierherden.
Ich fuhr direkt zu Lilja, bei der ich wohnen wollte. Lilja ist 79 Jahre alt, aber fit wie ein Turnschuh. Wir kennen uns aus Kanada, ich traf sie bei Montrealer Freunden, Ludger und Linna, die als Ethnologen wiederum sechs Jahre in Finnland gelebt hatten, in Lappland, bei den Sami.
Nun besuchte ich Lilja zu Hause in Ivalo, sie hatte mich eingeladen. Sie freute sich über meinen Besuch und wurde für mich zu einer exzellenten Fremden- und Kulturführerin. Lilja ist eine absolut sportliche Frau. Sie geht schwimmen. Exzessiv. Sowie es die Wetterverhältnisse erlauben. Wobei Wetter hier vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist, denn das Wetter spielt für sie die geringere Rolle. Solange der Fluss noch nicht komplett vereist ist, geht sie schwimmen. Täglich steigt sie in den Ivalojoki, den Ivalo-Fluss. Wenn sich dann das erste Eis bildet, beendet das noch nicht unbedingt ihre Badesaison. Solange es nur dünn genug ist, schlägt sie die Oberfläche mit einem Birkenknüppel auf und steigt in dieses sprichwörtlich kühle Nass.
Mich fror allein schon beim Zuhören. Meine Bewunderung stieg. In schwachen Momenten hänge ich auch mal esoterischen Möglichkeiten nach, zum Beispiel der Wiedergeburt. Dann denke ich, wenn es das tatsächlich gibt, war ich in meinem ersten Leben Wikinger, im zweiten Inuit, im dritten Ostwestfale. Immer also in kühle Landschaften geboren. Aber bei Liljas Erzählungen vom Eisbaden und Flussschwimmen zwischen Eisschollen und Eisloch merkte ich nun, dass ich vielleicht doch eher der Mensch für Sonne, Ofen und Kamin bin, für Whirlpool und Badewanne.
Im Mietwagen fuhren wir durch das gedämpfte Weiß des verschneiten Lapplands zur russischen Grenze. Wir besuchten ein Weihnachtskonzert. In einer Kleinstkirche, nur unweit von Ivalo entfernt, in Keväjärvi. Schon die Auffahrt zur Kirche war nur mit Kerzen beleuchtet. Das Gebäude selbst aus Holz, auch innen gab es nur Kerzenlicht. Wir betraten den kleinen Kirchenraum, etwa fünf mal fünf Meter groß, nach oben spitz zulaufend. An drei Seiten saßen Menschen, die meisten waren Samen. Die vierte Seite war die Altarseite. Diese Kirche wird von allen Konfessionen »benutzt«, von der evangelisch-lutherischen genauso wie von der finnisch-orthodoxen. Jetzt gab es ein Konzert von Jouko, dem evangelischen Pfarrer. Sein Begleiter Matti spielte Keyboard. Ein Casio. Batteriebetrieben. Er hatte eine
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