Finstere Propheziung
ihren ein Meter sechzig war Camryn fast zehn Zentimeter kleiner als die schlaksige Beth. »Los, Cam. Schieß!«, flehte Kristen Hsu, eine der Abwehrspielerinnen der Meteors. »Mach schon!« Cam stürzte sich auf den Ball, erwischte ihn im vollen Lauf, schnitt ihn an und katapultierte ihn ins Netz. Tor. Ausgleich in der letzten Sekunde vor der Halbzeit! Nun rannte das ganze Team auf sie zu. »Du hast's geschafft!« Beth, die Cam als Erste erreichte, warf ihre Arme um sie und hüpfte begeistert auf und ab. »Bislang steht es nur unentschieden«, erinnerte Cam ihre jubelnde Freundin, obschon auch sie aufgedreht und zuversichtlich war. »Die zweite Halbzeit steht uns noch bevor.«
»Und dann nichts wie weg!«, quietschte Beth, während sie zur Reservebank hinübergingen. »Ferien: Wir haben es uns verdient. Eine Megawoche wartet auf uns, dreitausend Kilometer weit weg von Marble Bay!« Fahre nicht, hörte Cam. Die Stimme war kaum mehr als ein scharrendes Flüstern, das Cam eine Gänsehaut machte. Sie sah sich um und rieb sich die Arme. Nur Beth stand nah genug, als dass sie so leise hätte sprechen und trotzdem noch von Cam gehört werden können. »Wohin soll ich nicht fahren?«, fragte sie. »Wie bitte?« Beth blickte sie verständnislos an. »Hast du nicht gerade gesagt, dass wir nicht fahren sollen ?«
Mit einem Mal fröstelte Cam. »Nat ü rlich nicht.« Beth schüttelte den Kopf und ihre wilden Locken tanzten. Unter dem Einfluss der schneidenden Meeresluft von Marble Bay und der salzigen Hitze des Spiels blühte ihr gekräuseltes Haar auf wie ein Ficus nach einer Überdosis Mineralien. »Auf keinen Fall. Ich würde am liebsten
gleich losfahren, das weißt du doch. Du, ich, eine umwerfende Villa... « Fahre nicht. Cam hörte es schon wieder. Diesmal erkannte sie die Stimme.
Ein eisiger Hauch umhüllte sie und ließ einen Schauder über ihren schweißgebadeten Rücken laufen. Oh nein, dachte sie. Nicht gerade jetzt. Nicht mitten im wichtigsten Spiel meines Lebens. Wie alt war sie beim ersten Mal gewesen ? Wahrscheinlich so sieben oder acht. Das erste Mal, dass sie diese raue Stimme gehört hatte, das erste Mal, dass sie den knochendürren Mann mit dem unheimlichen weißen Gesicht gesehen hatte. Zunächst hatte sie sich damals vor ihm gefürchtet. Sobald er wieder verschwunden war - nur Augenblicke später - war sie ins Wohnzimmer gerannt, stolperte über die zu langen Beine ihrer Schlafanzughose. Ihre Eltern hatten Gäste. Ihr Vater schenkte gerade Kaffee ein. »Was ist denn, Schatz?«, hatte ihre Mom gefragt, sie hochgenommen und ihr die Haare aus dem Gesicht gestrichen. Der Mann, weinte sie. Welcher Mann? Der dürre Mann in Schwarz. Ein Traum, sagte ihre Mutter beruhigend. Nein, nein. Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn gehört. Er sagte, dass ich in Wirklichkeit Apolla heiße.
Sie konnte sich deutlich daran erinnern, ebenso deutlich, wie sie gerade dieselbe Stimme gehört hatte: »Fahre nicht.« Brianna Waxman, die Linksaußen spielte - falls gerade mal keiner ihrer Fingernägel abgebrochen war und ihre Frisur hielt - trottete herüber und schrie: »Meteors sind die Größten!«
»Du hast Hervorragend gespielt.« Kristen beglückwünschte Cam überschwänglich. »Was?«, fragte Cam. Das Brummen in ihren Ohren hatte begonnen. Dieses Schwindel erregende Summen, an das sie sich seit ihrer Kindheit erinnerte.
»Es war nur ein Traum, nichts weiter«, hatte ihre Mom beteuert und sich Hilfe suchend an Cams Vater gewandt. Der hatte sie dann auf den Arm genommen, seine großen Hände noch warm von der Kaffeekanne. Rasch hatte er Cam aus dem Wohnzimmer gebracht, wo sie gerade in Anwesenheit der Gäste erklärt hatte, dass die Kette mit dem goldenen Sonnen-Amulett, die sie seit ihrer Geburt getragen hatte, Apolla gehöre. »Wer soll denn das sein?«, fragte einer der Freunde ihrer Eltern.
»Eine Hexe«, hatte Cam ihrer Mom zufolge geantwortet, mit einer Stimme wie aus einem Traum erwachend. »Cam. Hallo. Wo bist du denn?« Es war Beth. »Nirgendwo. Hier natürlich«, sagte sie und kam mit ihren Gedanken auf das Fußballfeld zurück. »Na, war das nicht ein astreines Manöver? Traumhafte Vorlage, Beth.«
»Die reinste Zauberei«, jubelte Brianna. »Cams Psycho-Power macht mal wieder Überstunden.« Cam versuchte zu lachen, brachte aber nur ein müdes Lächeln zu Stande. Seit ihrem vierzehnten Geburtstag war sie immer wieder damit aufgezogen worden - mit ihrem sechsten Sinn, ihren Eingebungen, den seltsamen Dingen, die
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