Finstere Propheziung
Jedenfalls bestimmt nicht, weil Cam so etwas gedacht oder es sich gewünscht hatte.
Cam widersprach den Vorwürfen ihrer Gegnerin nicht. Sie konnte nicht. Sie hatte keine Ahnung, was gerade abgelaufen war. Ihr war nur klar, dass die Wildcats einen indirekten Freistoß bekamen. Während Lindsay sich darauf vorbereitete, trabte Beth mit grimmiger Miene zu Cam herüber. »Sag mal, du hast sie doch nicht wirklich gestoßen?« Cam verzog das Gesicht. »Ich ... das heißt: nein. So etwas würde ich doch niemals tun. Oder?« Besorgt und argwöhnisch betrachtete Beth ihre beste Freundin - während Lindsays Ball sein Ziel erreichte: Er zappelte im Netz und die Wildcats gingen mit einem Tor in Führung! Wie sich herausstellte, war dies schließlich das entscheidende Tor.
Wenige Augenblicke später nämlich, als das Spiel wieder im Laufen war und der Ball direkt auf Cam zuschoss, das Feld vor ihr vollkommen frei und offen für das leichteste und sauberste Tor aller Zeiten - da geschah es erneut. Sie hörte die Stimme. Seine Stimme. Fahr nicht. Es ist zu gefährlich. Sie braucht dich jetzt. Sie? Cam schloss überwältigt die Augen. Wer brauchte sie? Beth? Tonya? Marleigh? Marleigh, dachte sie. Man will sie kicknappen. Kicknappen ? Was sollte das denn heißen ? Hatte sie es richtig verstanden?
Cam riss die Augen auf und wandte sich der Zuschauertribüne zu. Ihr Blick fiel auf einen verschwommenen roten Fleck. Sie konzentrierte sich auf die Bewegung und erkannte ein kleines Mädchen mit karottenrotem Haar, nicht älter als sechs oder sieben Jahre, das durch die Ränge lief. Als Cams Aufmerksamkeit sich wieder auf die Stelle richtete, an der noch einen Moment zuvor Marleigh Cooper neben der
Präsidentin ihres Meteor-Fanklubs gestanden hatte, war der Popstar verschwunden. Tonya hingegen war noch da und telefonierte mit ihrem Handy. Neben ihr stand ein hoch gewachsener, totenblasser Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war. Cam erkannte sein Gesicht. Ihr stockte der Atem. Was war das ? Dieses Gesicht - seit Jahren schon erschien es ihr in ihren nächtlichen Albträumen. Nun war es hier, in der Welt des Tages - die Haut über den Wangenknochen so dünn wie Papier und wachsbleich; die Augen aus tiefen Höhlen heraus Cam direkt anstarrend. Was machte der Mann hier? Was wollte er? Irgendwo in weiter Ferne vermeinte sie ihre Mitspielerinnen zu hören: »Mach schon, Cam! Hau drauf! Beweg dich! Tritt denBallinsTor! DenkandasSPIEL!« Aber es war, als habe irgendjemand auf einen Knopf gedrückt ... Cam blickte stur geradeaus, ihr Mund stand offen, kalter Schweiß rann ihr aus allen Poren. Vollkommen durchnässt klebte ihr scharlachrotes Trikot an ihren Rippen, ihr Mund hingegen war staubtrocken.
Keinen Laut brachte sie hervor, als sie zu schreien versuchte.
Hunderte von kreischenden Fans auf der Tribüne, dutzende von Spielern auf dem Feld und den Reservebänken. Sah ihn denn außer ihr niemand? Wie konnte das Traumgesicht hier erscheinen? War es wirklich nur ein Traum? Ein Gefühl nackten Grauens überflutete sie erneut. Bitte, flehte sie, lass es meine wilde Fantasie sein, meine übertriebene Einbildungskraft, wie Mom sich ausdrückt. »Reiß dich zusammen, Cam! Sofort!« Beth Fish drang in ihr Ohr, den schrillen Chor ihrer Mitspielerinnen überschreiend. »Worauf wartest du noch? Mach schon! Schiiiiieß!«
Cam versuchte sich zu konzentrieren. Sie zwang ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Spielfeld. Der Ball lag vor ihren Füßen. Sie nahm ihren ganzen Willen zusammen und versuchte mit aller Kraft, nach dem Ball zu treten und ihn ins Tor zu katapultieren. Aber nichts geschah.
Wie angewurzelt stand sie da, Camryn Barnes, bekannt als die absolute Spitzenstürmerin von Marble Bay, hellwach und zugleich vollkommen gefangen in der eisigen Umklammerung eines realen Albtraums.
Kapitel 4 - ALEXANDRA
Artemis, erwache! Sie braucht dich. Geh mit ihr. Wie aus Knochen gemeißelt grinste das kreideweiße Gesicht sie an, ein Gesicht mit Zügen, die ganz aus leuchtenden Flächen und finsteren, tiefen Furchen zu bestehen schienen. Ruckartig schlug Alex die Augen auf. Sonnenlicht knallte durch das rostige und ramponierte Rollo, erhellte ihr enges Zimmer. Brannte in ihren blassen grauen Augen. Benommen blinzelte sie, um sich gegen den grellen Schein zu schützen. Sie war schweißüberströmt. Ihre wüst abgesäbelten, mit blauen Strähnen durchzogenen Haare, eine Farbe, die verblüffen und Anstoß erregen sollte, waren klitschnass. Ihr Herz
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