Heiliges Feuer
1
Mia Ziemann wollte wissen, wie man sich an einem Sterbelager kleidete.
Im Netz riet man ihr zu Schlichtheit und Aufrichtigkeit. Mia war eine vierundneunzigjährige kalifornische Medizinökonomin, während der Todkranke, Martin Warshaw, vor vierundsiebzig Jahren auf dem College ihr Geliebter gewesen war. Mia rechnete mit einer vorbereiteten Erklärung. Höchstwahrscheinlich würde es eine Hinterlassenschaft geben. Die Unterhaltung würde sich darum drehen, Mr. Warshaws Leben nachträglich eine Ordnung aufzuprägen, um dem Bedürfnis nach Würde und Geschlossenheit, die im letzten Lebensabschnitt von besonderer Bedeutung waren, Genüge zu tun. Er würde sie nicht bitten, beim tatsächlichen Todeseintritt zugegen zu sein.
Die Wiedervereinigung ehemaliger Geliebter am Sterbebett stellte eine Herausforderung an die Etikette dar, denn gesellschaftliches Wohlverhalten genoss gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts einen hohen Stellenwert. Problemfälle wie dieser wurden in endlosen Kommentarrunden, Arbeitspapieren von Expertengremien, anekdotischen Testamenten, auf Ethikkongressen, in vereideten öffentlichen Anhörungen und Benimmleitfäden ausgiebig erörtert. Kein Aspekt des menschlichen Lebens war davor gefeit, mit aufmerksamem, besonnenem und reifem Rat bedacht zu werden.
Mia hatte so viel von diesem Material studiert, wie sie verdauen konnte. Den Nachmittag verbrachte sie damit, sich mit Martin Warshaws finanziellen und medizinischen Daten vertraut zu machen. Sie hatte Martin seit fünfzig Jahren nicht mehr gesehen, seine berufliche Karriere aber bis zu einem gewissen Grad verfolgt. Martins Daten waren höchst aufschlussreich und informativ. Sein Leben wurde dadurch zu einem offenen Buch. Das war ihr Zweck.
Mia fasste einen Entschluss: schwarze, flache Schuhe, Stützstrümpfe, einen reaktiven Gürtel und ein Korsett, ein knielanges Seidenkleid in Kastanienbraun und Grau, lange Ärmel, hoher Kragen. Ein Hut kam ihr durchaus angemessen vor. Keine Handschuhe. Handschuhe wurden zwar empfohlen, wirkten aber zu klinisch.
Mia ließ sich das Blut filtern, die Haut enzymieren und unterzog sich anschließend einer knochentiefen Massage. Sie nahm ein Mineralbad und manikürte sich die Hände. Sie ließ sich das Haar waschen, laminieren, volumisieren, legen und lackieren. Sie erhöhte den Anteil gesättigter Fettsäuren in ihrer Kost. Die Nacht verbrachte sie unter einem Überdruckzelt.
Am nächsten Morgen, dem 19. November, ging Mia in die Stadt, um sich einen dezenten Hut auszusuchen, einen Hut, der den Umständen wahrhaft angemessen wäre. Es war ein kalter Herbsttag in San Francisco. Von der Bucht wehte Nebel heran und sickerte durch die belaubten Flanken der Bürotürme. Sie spazierte umher, besah sich die Auslagen und spazierte weiter, lange Zeit. Sie fand nichts, was ihrer Stimmung entsprochen hätte.
Ein Hund folgte ihr die Market Street entlang und bahnte sich geschickt einen Weg durchs Gewühl. In einem schattigen Säulengang streckte sie lockend die bloße Hand aus.
Der Hund verharrte furchtsam, dann kam er näher und beschnüffelte ihre Finger.
»Bist du Mia Ziemann?«, fragte der Hund.
»Ja, die bin ich«, antwortete Mia. Menschen gingen vorbei, mit energischen, zielstrebigen Schritten und ernster Miene; ihre sauberen Schuhe scharrten über das rote Backsteinpflaster des Gehsteigs. Der Hund ließ sich unter Mias stetigem Blick auf die Hinterbeine nieder.
»Ich bin dir von zu Hause gefolgt«, prahlte der Hund, rhythmisch japsend. »Das war ein weiter Weg.« Der Hund trug einen karierten Strickpullover, maßgeschneiderte Hundehosen und ein schwarzes Strickkäppchen.
Die behandschuhten Vorderpfoten des Hundes taugten auch zum Greifen, ähnlich den Pfoten eines Waschbären. Sein rehbraunes Fell war kurz geschoren, und er hatte hübsche, große Augen. Die Stimme kam aus einem in den Hals implantierten Lautsprecher.
Ein Auto hupte einen säumigen Fußgänger an, ein einzelner Ton, der die gedämpfte Geräuschkulisse des Zentrums von San Francisco unangenehm störte. »Ja, der Weg war weit«, sagte Mia. »Das hast du gut gemacht. Braver Hund.«
Der Hund freute sich über das Lob und wedelte mit dem Schwanz. »Ich glaube, ich habe mich verlaufen, und ich bin ziemlich hungrig.«
»Nur keine Sorge. Guter Hund.« Der Hund duftete nach Eau de Cologne. »Wie heißt du?«
»Plato«, antwortete der Hund schüchtern.
»Das ist ein hübscher Name für einen Hund. Weshalb bist du mir gefolgt?«
Diese
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