Kleider machen Leute
GOTTFRIED KELLER
Kleider machen Leute
Eine Posse aus Seldwyla
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Gottfried Keller
Kleider machen Leute
Eine Posse aus Seldwyla
(1874)
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lit era scripta manet
Gottfried Keller
(19.07.1819 - 15.07.1890)
. Ausgabe, Januar 2006
© eBOOK-Bibliothek 2006 für diese Ausgabe
Aus Gottfried Kellers „Die Leute von Seldwyla“, Band II
Titelphotographie von Andre Veron
n einem unfreundlichen Novembertage
wanderte ein armes Schneiderlein auf der Land-
Astraße nach Goldach, einer kleinen reichen Stadt,
die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist. Der Schnei-
der trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut, welchen er,
in Ermangelung irgendeiner Münze, unablässig zwischen den
Fingern drehte, wenn er der Kälte wegen die Hände in die Ho-
sen steckte, und die Finger schmerzten ihn ordentlich von die-
sem Drehen und Reiben. Denn er hatte wegen des Falliments
irgendeines Seldwyler Schneidermeisters seinen Arbeitslohn
mit der Arbeit zugleich verlieren und auswandern müssen. Er
hatte noch nichts gefrühstückt als einige Schneeflocken, die
ihm in den Mund geflogen, und er sah noch weniger ab, wo
das geringste Mittagbrot herwachsen sollte. Das Fechten fiel
ihm äußerst schwer, ja schien ihm gänzlich unmöglich, weil er
über seinem schwarzen Sonntagskleide, welches sein einziges
war, einen weiten dunkelgrauen Radmantel trug, mit schwar-
zem Samt ausgeschlagen, der seinem Träger ein edles und ro-
mantisches Aussehen verlieh, zumal dessen lange schwarze
Haare und Schnurrbärtchen sorgfältig gepflegt waren und er
sich blasser, aber regelmäßiger Gesichtszüge erfreute.
Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, ohne
daß er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde
führte; vielmehr war er zufrieden, wenn man ihn nur gewäh-
ren und im stillen seine Arbeit verrichten ließ; aber lieber wäre
er verhungert, als daß er sich von seinem Radmantel und von
seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die er ebenfalls
mit großem Anstand zu tragen wußte.
Er konnte deshalb nur in größeren Städten arbeiten, wo
solches nicht zu sehr auffiel; wenn er wanderte und keine Er-
sparnisse mitführte, geriet er in die größte Not. Näherte er sich
einem Hause, so betrachteten ihn die Leute mit Verwunde-
rung und Neugierde, und erwarteten eher alles andere, als daß
er betteln würde; so erstarben ihm, da er überdies nicht beredt
war, die Worte im Munde, also daß er der Märtyrer seines
Mantels war und Hunger litt, so schwarz wie des letztern
Sammetfutter.
Als er bekümmert und geschwächt eine Anhöhe hinauf-
ging, stieß er auf einen neuen und bequemen Reisewagen,
welchen ein herrschaftlicher Kutscher in Basel abgeholt hatte
und seinem Herren überbrachte, einem fremden Grafen, der
irgendwo in der Ostschweiz auf einem gemieteten oder ange-
kauften alten Schlosse saß. Der Wagen war mit allerlei Vor-
richtungen zur Aufnahme des Gepäckes versehen und schien
deswegen schwer bepackt zu sein, obgleich alles leer war. Der
Kutscher ging wegen des steilen Weges neben den Pferden,
und als er, oben angekommen, den Bock wieder bestieg, fragte
er den Schneider, ob er sich nicht in den leeren Wagen setzen
wolle. Denn es fing eben an zu regnen, und er hatte mit einem
Blicke gesehen, daß der Fußgänger sich matt und kümmerlich
durch die Welt schlug.
Derselbe nahm das Anerbieten dankbar und bescheiden
an, worauf der Wagen rasch mit ihm von dannen rollte und
in einer kleinen Stunde stattlich und donnernd durch den
Torbogen von Goldach fuhr. Vor dem ersten Gasthofe, zur
Waage genannt, hielt das vornehme Fuhrwerk plötzlich, und
alsogleich zog der Hausknecht so heftig an der Glocke, daß
der Draht beinahe entzweiging. Da stürzten Wirt und Leute
herunter und rissen den Schlag auf; Kinder und Nachbaren
umringten schon den prächtigen Wagen, neugierig, welch ein
Kern sich aus so unerhörter Schale enthülsen werde, und als der
verdutzte Schneider endlich hervorsprang in seinem Mantel,
blaß und schön und schwermütig zur Erde blickend, schien er
ihnen wenigstens ein geheimnisvoller Prinz oder Grafensohn
zu sein. Der Raum zwischen dem Reisewagen und der Pforte
des Gasthauses war schmal und im übrigen der Weg durch die
Zuschauer ziemlich gesperrt. Mochte es nun der Mangel an
Geistesgegenwart oder an Mut sein, den Haufen zu durchbre-
chen und einfach seines Weges zu gehen — er tat dieses
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