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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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versuchte. Es gab keinen Halt mehr und schließlich musste er schwimmen, der weiche, bewegte Boden unter ihm gab immer wieder unter den heranströmenden Fluten nach. Sein kleiner Körper wirbelte wie von starken Männerhänden geworfen mal über und mal unter die schäumende Wasseroberfläche. Das Salz brannte in seinen Augen, doch er wollte sie nicht schließen, um nicht ganz blind zu sein. Sie musste doch endlich kommen. Er wollte die Hand seiner Mutter nicht übersehen, wenn sie sich ihm rettend entgegenstreckte.«Mama», schrie er wieder, aber es war nicht mehr als ein Gurgeln.
    Das Meer zog ihn immer weiter hinaus, fort von der Sandbank, fort von der Zuversicht, dass sie sein Rufen hören konnte.
    Ich ertrinke, schoss es ihm durch den Kopf, und der Schreck lähmte seine inzwischen kraftlosen Arme und Beine noch mehr als die Kälte der Nordsee im frühen April. Ich ertrinke vor den Augen meiner Mutter, sie ist eine schlechte Mutter. Bin ich ihr denn gar nichts wert? Sie werden mit den Fingern auf sie zeigen und untereinander tuscheln, was für ein liebenswerter Kerl ich doch war und dass das nicht passiert wäre, wenn Oma noch lebte.
    Seine Gedanken sprudelten mehr und mehr durcheinander, es gab kein Oben und kein Unten, ab und zu griffen seine fast starren Hände in einen Brei aus zermahlenen Muscheln und Sand, es war eine Quälerei, denn jedes Mal, wenn die winzigen Stücke festen Bodens zwischen seinen Fingern hindurchglitten, fühlte er eine Sekunde lang so etwas wie Hoffnung, dass alles gut gehen würde, dass alles gut gehen würde, dass   … Und dann wurde dieser Gedanke von der Kraft mitgerissen, die ihn zum Spielball des Meeres gemacht hatte. Ich ertrinke   …
    «Oma!», schrie oder flüsterte er nun, er wusste es selbst nicht, da alles in ihm schrie, doch seine Lippen zusammengepresst waren, damit er nicht noch mehr schlucken musste von dieser dunkelgrünen Masse, die in seine Ohren, seine Nase, seine Augen eindrang. «Oma!» Er hatte immer nach ihr und nicht nach seiner Mutter gerufen. Wo war sie?
    Dann umschloss eine feste Hand seinen Arm. Konnte er ihre hellbraunen Altersflecken darauf erkennen? Die durchscheinenden Adern und hervorstechenden Knochen der Hand, die er so gut kannte? Er spürte, wie er quer zur wütenden Strömungfortgezogen wurde, eine zweite Hand packte ihn unter seinem hilflosen Arm. «Oma?»
    Der Sand legte sich unter das nass klebende T-Shirt auf seinen Rücken, als er an Land gezogen wurde. Er rührte sich nicht, lag einfach nur da. War er jetzt tot? Ein eisiger Wind streifte über seine nackten Arme, wie kleine Nadeln peitschten sandige Körner in seine Seite, es tat weh, und erst jetzt schluchzte er auf. Als er nun sein eigenes singendes Jammern hörte, wurde ihm bewusst, dass er gar nicht tot war, dass er lebte, dass er nur steif, aber in Sicherheit auf festem Boden lag.
    «Alles in Ordnung, mein Junge», sagte eine angenehm dunkle Stimme und im selben Moment wurden seine Arme, sein ganzer Oberkörper von einem warmen Stück weichen Stoffs zugedeckt. Als er die Augen endlich öffnete, erwartete er beinahe, seine Oma über ihn gebeugt zu erblicken, doch den jungen Mann mit fast weißem Haar hatte er noch nie gesehen. «Dir kann jetzt nichts mehr passieren!»
    Er schloss die Augen wieder, spürte, wie der Fremde seinen nassen Kopf im Schoß bettete, hörte, wie er mit tiefer, ruhiger Stimme auf ihn einredete.
    «Hat dir denn nie jemand gesagt, dass du nicht unachtsam bei auflaufend Wasser an der Meereskante entlanggehen sollst?»

1.
    Machen wir uns nichts vor: Es gibt Bessere als mich. Mein Haar ist zu dunkel, um richtig blond zu sein, meine Figur zu kompakt, als dass ich eine zierliche Erscheinung abgeben könnte. Nichts Besonderes, nur die vielen Sommersprossen im Gesicht sind ein wenig spektakulär. Ich bin keine Frau, bei deren Geburtstag die halbe Stadt zu Gast ist und die massenhaft ihr mit eindeutiger Absicht zugesteckte Telefonnummern am Kühlschrank kleben hat.
    Genau genommen hängen dort nur fünf Zettel. Zwei aus dem «Ostfriesischen Kurier» ausgerissene Geburtstagsanzeigen von ehemaligen Schulkameradinnen, die ebenfalls die dreißig erreichten, ohne verheiratet zu sein, die aber wenigstens über eine alberne Clique verfügten, die Geld in eine saumäßig gereimte Annonce investierten, um den Rest der Stadt über das Elend aufzuklären:
«Kaum zu glauben, aber wahr, die Petra wird heut’ dreißig Jahr, sie ist noch ledig – ohne Mann, drum komm zur Fete,
wer

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