Fischer, wie tief ist das Wasser
Bäumen, die rund um das Haus herum standen, und über der einladenden Holztür stand «Liekedeler-Stiftung».
Die ewig feuchten Hände meines alten Chefs auf der Bluse hatten also doch irgendwie ihr Gutes: Ohne diese unerträglichen, stets als Zufall getarnten Berührungen wäre ich vielleicht noch bis ans Ende meiner Tage im Teeimport versauert.
«Liekedeler» ist da eine ganz andere Liga. Ich brauchte nun nicht lang zu suchen, bis ich die Broschüre wieder fand, in der ich mich schon vor meinem Bewerbungsgespräch über die Stiftung informiert hatte. Drei lachende, wilde und glückliche Kinder schienen aus der Titelseite herauslaufen zu wollen.
«Wir sind bereit!»,
stand über ihren fliegenden Haaren. Mir gefiel dieses Bild, ich hatte gleich das Gefühl, mitrennen zu wollen.
«Wir von Liekedeler haben einen Weg gefunden, Ihr Kind zu motivieren. Abenteuer, Zusammenhalt und Spaß sind die Begleiter, wenn Ihr Kind mit uns geht. Gesteigerte schulische Leistungen sind unser Ziel, wir möchten engagierte und interessierte Schüler formen und somit Ihrem Kind die Chance geben, das Beste in sich zu entdecken.»
Klang doch gut, nicht wahr? Natürlich darf man Werbebroschüren nur die Hälfte glauben, jedes Kind weiß, dass solche Versprechungen immer übertrieben sind und man Abstriche machen muss. Wir tragen alle viel zu dick auf. Schade eigentlich. Aber selbst wenn nur die Hälfte bei Liekedeler stimmt, wäre das ein guter Schnitt.
«In vielen Familien geht es drunter und drüber, Eltern können nicht immer da sein, das verstehen wir. Die Kinder sind nach der
Schule oft auf sich allein gestellt und geraten viel zu häufig an ‹automatische› Unterhaltung wie Fernsehen und Computerspiele. Gerade bei Kindern zwischen 8 und 13 Jahren ist eine solche Entwicklung gefährlich, denn in dieser Zeit sind wir am lernfähigsten. Bei eintöniger, passiver Berieselung dauert es nicht lang, und das Gehirn Ihres Kindes stumpft ab, wird nicht mehr aufnahmefähig. Es ist wie ein Schwamm, der danach dürstet, sich mit allem voll zu saugen, was er geboten bekommt. Doch wenn er nichts bekommt, dann trocknet er aus, wird spröde und brüchig.»
Kinder liegen mir, das wusste ich. Oft ertappte ich mich dabei, dass ich vor mich hin sang, mit meinem Fahrrad durch Pfützen fuhr oder vor Begeisterung in die Hände klatschte, weil ich selbst noch wie ein kleines Mädchen war. Manchmal. Natürlich nur, wenn ich mich unbeobachtet fühlte. War ich wirklich schon dreißig? Die Aussicht, in Zukunft mit fröhlichen, albernen, aktiven Kindern oder auch Erwachsenen zu arbeiten, statt für Teebeutel zu werben, war sehr verlockend.
«Wir bieten Kindern von den Klassen 1 bis 6 einen regelmäßigen Alltag, der sie nach der Schule erwartet: gemeinsamer Mittags- und Abendtisch mit ausgewogenen Speisen, Ausgleichsspiel mit den Schulkameraden und gezielte, individuelle Pädagogik. Die Schule verfügt über ein Team qualifizierter Lehrkräfte, die sich auf schulischen Gebieten wie Naturwissenschaften, Sprachen und Philosophie auskennen und Ihren Kindern erstklassige Hausaufgabenhilfe und Förderunterricht bieten. Doch zusätzlich, und dies ist das Einmalige an Liekedeler, nehmen wir Ihr Kind an die Hand, um ihm zu zeigen, wie aufregend das Leben sein kann: Experimente in der Natur, musikalische und künstlerische Intensivarbeit, Segelkurse und Wandertage, dies alles wird den Horizont Ihres Kindes erweitern.»
«Ich habe diese Zeilen geschrieben», sagte Dr. Veronika Schewe mit einer sanften, dunklen Stimme, als ich sie bei meinem Bewerbungsgespräch auf die Broschüre ansprach. «Ich erhoffe mir von unserer neuen P R-Frau natürlich etwas Pfiffigeres als dieses Faltblatt. Vor drei Jahren hat es noch genügt, doch nun eröffnen wir in Bremen unsere zwölfte Filiale, da wird es Zeit für qualifizierte Werbefachleute.»
«Und deshalb haben Sie die Anzeige aufgesetzt?»
«Ihre Bewerbung hat mir sehr gefallen. Ihr beruflicher Werdegang ist im Prinzip genau das, was wir suchen: ein wenig Journalismus, etwas Wirtschaftswissen und dann natürlich Psychologie. In unserem Fall ist Ihre Ausbildung ein Volltreffer, liebe Frau Leverenz.» Sie schenkte sich noch eine Tasse schäumendfrischen Kaffee ein und ich bewunderte die langen, weinrot lackierten Fingernägel ihrer erstaunlich jungen Hände. Dr. Veronika Schewe mochte sicher schon fünfzig sein, doch sie war insgesamt so glatt und edel, dass sie mich an ein antikes, wertvolles Möbelstück erinnerte,
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