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Flaschendrehen: Roman (German Edition)

Flaschendrehen: Roman (German Edition)

Titel: Flaschendrehen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anke Greifeneder
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also, mit dem man sich bei Familie Phoenix ohne Probleme zwischen River, Sun und wie sie alle hießen, locker hätte einreihen können.
    Nein, mit Gretchen hatte ich geradezu Glück gehabt!
    Natürlich hatte ich in der Oberstufe das Gretchen spielen müssen, als wir Szenen aus Faust aufführten, nicht nur des Namens wegen, sondern weil ich genauso aussah, wie man sich ein Gretchen vorstellt: wellige blonde Haare, große hellblaue Augen, eine Stupsnase mit Sommersprossen und Kussmund – eben das, was man landläufig als süß bezeichnet. In der eigens modernisierten Version des übermotivierten Deutschreferendars musste ich den Teufel küssen, dargestellt von Mathias Winkelmann. Mathias Winkelmann gab nicht nur eine klägliche Figur mit Mundgeruch ab, sondern hatte außerdem die fast unlösbare Aufgabe, den Teufel als Kapitalismus zu interpretieren. Ein Geniestreich des eben erwähnten Deutschreferendars, der mich aufforderte, in zerschnittenen Netzstrümpfen aufzutreten, um die Ambivalenz und die innere Zerrissenheit Gretchens angemessen darzustellen.
    Dass selbst diese Bühnenerfahrung und die anzüglichen Bemerkungen des Deutschreferendars es nicht schafften, meine Begeisterung für Theater und Kino zunichte zu machen, zeigt, wie ernst es mir war, sodass ich beim Interview für die Abizeitung bei der Frage nach dem Berufswunsch »Irgendwas mit Film oder Theater« geantwortet hatte.
    Meine neue Nachbarin Leila hatte ihre Fassung wiedererlangt und sich netterweise einen Kommentar verkniffen.
    »Freut mich, Gretchen. Wenn du was brauchst oder wissen willst, klingel einfach. Ich komm später gerne vorbei. Die Wohnung wollte ich schon immer mal sehen, aber der Typ, der vor dir drin gewohnt hat, war ziemlich seltsam! Zog die Vorhänge nie auf, bekam nicht einmal Besuch und war immer daheim. Kein Geräusch hat der gemacht, keine Ahnung, wovon der eigentlich gelebt hat.«
    Oh nein! Meine Mutter kam keuchend die Treppe herauf und hatte Leilas Bemerkung gehört!
    »Da müssen wir unbedingt räuchern. Das Chi muss aus der Wohnung raus. Ich hatte gleich so ein Gefühl beim Eintreten.«
    »Leila, das ist meine Mutter. Mama, das ist Leila, meine neue Nachbarin.«
    Sollte ich gleich erwähnen, dass ich von Chi und Räuchern so gar nichts hielt?
    »Leila, welch ungewöhnlicher Name! Schön! Ich finde es so wichtig, einem Menschen einen individuellen Namen mitzugeben, damit er sich zu einer eigenen Persönlichkeit entwickeln kann.« Meine Mutter sah Leila mit diesem verklärten »Ich bin okay, du bist okay«-Blick an, den sie auch bei ihren Schülern gern aufsetzte. Mit ihrem brasilianischen Einschlag sammelte Leila ohnehin jede Menge Pluspunkte. »Multikulti« war eine Lebensdevise meiner Mutter. Sie sammelte Bekannte und Freunde verschiedener Nationalitäten wie andere Panini-Bildchen. Das war so typisch für meine Eltern: In der Sache lagen sie richtig, mussten dann aber auch aller Welt demonstrieren, wie tolerant sie waren und wie moralisch einwandfrei sie lebten. Sie waren ein wandelndes Klischee und Abziehbild der achtundsechziger Generation.
    Warum hatten sich ausgerechnet meine Eltern null weiterentwickelt und trugen immer noch das Gedankengut einer Generation mit sich herum, die inzwischen eigentlich nur noch zum Feinkostitaliener einkaufen ging, schwarze Rollis trug, Saabs fuhr und in riesigen Altbauwohnungen mit Designermöbeln wohnte?
    Warum meine Mutter war, wie sie war, ließ sich relativ einfach erklären: einzige Tochter extrem wohlhabender, erzkonservativer Eltern, die ihr das gleiche Leben aufzwingen wollten. Dass da eine Auflehnung gegen das Establishment stattfand, okay. Aber hey, die Pubertät konnte man mit Ende fünfzig doch hinter sich gebracht haben, oder handelte es sich um den nahtlosen Übergang in die Menopause?
    »So ein verfluchter Mist! Ekelhaft!«
    Man hörte meinen Vater von unten bis in den zweiten Stock fluchen. Das viele Meditieren nützte wohl nichts, zumindest, was seine cholerischen Anfälle anging.
    »Das war Papa. Er ist schon wieder in einen Hundehaufen getreten.« Laut lachend kam mein Bruderherz um den Treppenabsatz gebogen.
    Leila sah ihn mit großen Augen an. Nichts Ungewöhnliches, wenn man einen älteren Bruder hat, der es vom Aussehen her mit jedem aus dem Rat Pack aufnehmen konnte und dabei auch noch charmant war. Wie er so durchtrainiert und unaufgeregt in Jeans und T-Shirt, durchnässt vom Regen, dastand, war mir klar, dass es um Leila geschehen war. Den Blick kannte ich. Nummer

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