Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)
D ies sind die drei wichtigsten Dinge, die ich in den zweiundzwanzig Jahren auf diesem Planeten gelernt habe:
1. Wisch dir nie den Hintern mit Giftefeu ab.
2. Menschen sind wie Ameisen. Nur ein paar von ihnen geben die Befehle, die meisten anderen werden ihr Leben lang zerquetscht.
3. Es gibt keine Happy Ends, nur Pausen im normalen Verlauf.
Von diesen drei Punkten ist eigentlich der dritte der einzige, den man sich merken muss.
»Das ist doch eine Riesendummheit«, sagt Tack. »Wir sollten das nicht tun.«
Ich mache mir nicht die Mühe zu antworten. Er hat ja Recht. Es ist eine Riesendummheit und wir sollten es wirklich nicht tun. Aber wir tun es trotzdem.
»Wenn irgendetwas schiefgeht, brechen wir sofort ab«, sagt Tack. »Egal was. Ich bin nicht bereit, Weihnachten für diesen Mist aufs Spiel zu setzen.«
»Weihnachten« ist das Codewort für die nächste große Aktion. Wir haben bisher nur Gerüchte darüber gehört, wissen weder wann noch wo sie stattfinden soll. Wir wissen nur, dass sie bevorsteht.
Ich verspüre eine plötzliche Welle der Übelkeit in mir aufsteigen und schlucke sie hinunter.
»Es wird schon nichts schiefgehen«, sage ich, obwohl ich das natürlich nicht wissen kann. Dasselbe habe ich im letzten Herbst auch zu unserem Umzug gesagt. Niemand wird sterben , habe ich immer und immer wieder gesagt, wie ein Gebet.
Offenbar hat Gott nicht zugehört.
»Grenzkontrolle«, sage ich, als könnte Tack die massive Betonmauer, die vom Regen ganz dunkel ist, und die Kontrollposten weiter vorne nicht sehen. Der Lieferwagen ist wie ein alter Mann: Er ruckelt und bebt ständig und es dauert ewig, bis er tut, was er soll. Aber solange er uns dahin bringt, wo wir hinmüssen …
»Wir könnten inzwischen schon halb in Kanada sein«, sagt Tack, was natürlich übertrieben ist. Daran erkenne ich, dass er aufgebracht ist, denn Tack übertreibt fast nie. Er sagt immer genau, was er meint, und auch nur dann, wenn er sich sicher ist.
Das ist einer der Gründe, warum ich ihn liebe.
Wir überqueren die Grenze problemlos. Nach acht Jahren in der Wildnis und vier Jahren, in denen ich aktiv für die Widerstandsbewegung gearbeitet habe, habe ich gelernt, dass die Hälfte der Sicherheitsmaßnahmen des Landes nur Show sind. Es ist alles bloß eine Revue, ein großes Theater: eine Methode, um die winzigen Ameisen auf Linie zu halten, verängstigt, die Köpfe gesenkt. Die Hälfte der Wachleute sind kaum ausgebildet, die Hälfte der Mauern ungesichert. Aber es ist der Schein, der zählt, der Eindruck ständiger Überwachung und Begrenzung.
Diese Ameisen werden von Angst geleitet.
Tack schweigt, als wir den West Side Highway entlangfahren, auf dem kein Verkehr ist. Der Fluss und der Himmel sind von derselben schiefergrauen Farbe und der Regen pladdert in Strömen auf die Straße. Die Wolken sehen genauso bedrohlich und geschwollen aus wie an jenem Tag vor Jahren, als ich über die Grenze kam.
An dem Tag, als ich sie gefunden habe.
Ich kann ihren Namen noch immer nicht aussprechen.
Ich war auch mal eine Ameise. Damals, in meinem früheren Leben; damals, als ich noch einen anderen Namen hatte; damals, als meine einzige Narbe ein kleiner dünner Strich auf meinem Bauch war, wo die Ärzte mir den Blinddarm herausoperieren mussten.
Ich kann mich noch an unser früheres Haus erinnern, an die hauchdünnen Vorhänge, die nach Gardenien und Plastik rochen; an den Teppich, der täglich mit Backpulver bestreut und abgesaugt wurde; an die Stille, schwer wie Blei. Mein Vater mochte die Stille. Lärm verursachte das Summen in seinem Kopf – wie ein wild gewordener Bienenschwarm, hat er mir mal erklärt. Je lauter das Summen wurde, desto weniger konnte er denken. Je weniger er denken konnte, desto wütender wurde er. Bis er es unterbrechen musste, ihm Einhalt gebieten. Dann musste er das Geräusch mit der Faust zurückschlagen, bis wieder Stille herrschte.
Wir waren wie ein Strudel, der sich beständig um ihn herumdrehte und versuchte das Summen von ihm fernzuhalten.
Ich bin in jenem Haus beinahe ertrunken.
»Raven?«
Ich drehe mich zu Tack um, als mir klar wird, dass er etwas gesagt hat. »Was?«, entgegne ich etwas zu scharf.
»Hier?«
Tack fährt nun langsamer, wir kommen an einem unbewachten Parkplatz in der 24. Straße vorbei, der bis auf zwei Autos leer ist. Die Straße wird von identischen Häusern gesäumt, deren Rollläden wegen des Regens heruntergelassen sind. Sie sind so unbeweglich wie Wachposten: eine
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