Fleisch und Blut: Der Kannibale (German Edition)
einfach aus einer Laune heraus davor gewarnt, selbst Detektiv zu spielen. Dann schoss es ihm durch den Kopf: Was hatte überhaupt Köppel damit zu tun? Und weshalb war er, Aemisegger, über die Situation nicht im Bild? Der Kommissar wählte sofort die Nummer seines Assistenten Köppel und wollte ihn zur Rede stellen.
«Köppel, Morgen, sind Sie wahnsinnig? Ich erwarte sofort eine Erklärung!»
«Guten Morgen erst einmal. Bitte, wovon sprechen Sie?»
«Haben Sie die Zeitung gelesen?»
«Kommt drauf an welche, die Gratiszeitung ja, die lag im Zug. Habe ich was darin überlesen?»
«Ich spreche nicht von der Gratiszeitung!»
«Ach so. Nein, eine weitere Zeitung habe ich noch nicht gelesen. Ich bin eben erst im Präsidium angekommen.»
Aemisegger wunderte sich massiv über die lockere Haltung, die Köppel unter diesen Umständen noch an den Tag legen konnte.
«Ambauen ist verschwunden! Was wissen Sie darüber?»
«Aemisegger, wenn Sie mich weiterhin so anbrüllen, lege ich den Hörer auf! Und sowieso: ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen! Chefredaktor Tägli hat gestern bei uns angerufen. Sie waren bereits aus dem Haus und daher habe ich mit ihm gesprochen. Dienst nach Vorschrift, mehr nicht.»
«Wie meinen Sie, Nachricht hinterlassen? Sie hätten mich informieren müssen!»
«Worüber denn?»
«Na, dass Ambauen verschwunden ist.»
«Das habe ich doch, Chef. Ich habe versucht, Sie telefonisch zu erreichen und – weil das nicht klappte – auf Ihrer Combox eine Nachricht hinterlassen, wie bereits gesagt. Und zur Sicherheit habe ich Ihnen zusätzlich noch eine E-Mail geschrieben!»
Aemisegger verstummte. Er erinnerte sich in diesem Moment, dass er eine noch nicht abgehörte Meldung auf seiner Combox hatte. Anstatt darauf einzugehen, fragte er Köppel in einem sanfteren Ton: «Was hat Tägli gesagt?»
«Nicht viel. Er erwähnte, dass Ambauen auf Recherche war und spurlos verschwunden sei. Nachdem ich Sie nicht erreichen konnte, habe ich ihm für den Zeugenaufruf unseren Kontakt angegeben.»
«Das war alles?», fragte ihn Aemisegger ungläubig.
«Ja. Leider liegen Felix Tägli keine Details über die Recherchearbeit von Ambauen vor. Er wusste nicht einmal, wohin er an diesem Dienstagabend fuhr. Ambauen hätte ihm gegenüber nur erwähnt, dass er einer heissen Spur folge.»
«Ambauen hätte wissen müssen, dass das unsere Arbeit ist! Es wäre seine verdammte Pflicht gewesen, uns zu informieren! Und überhaupt, wie stehen wir denn da!» Aemisegger konnte sich nicht einkriegen.
«Das habe ich Tägli auch gesagt.»
«Hören Sie, Köppel, tragen Sie alle Fakten zusammen und schreiben Sie einen Bericht. Ich bin in dreissig Minuten im Präsidium.»
«Okay Chef. Bis später.»
Nachdenklich sass Aemisegger im Wagen. Welcher Spur war Jürg Ambauen gefolgt? Und weshalb wusste er, Aemisegger, nichts von dieser Spur? Eines war gewiss: das war erst der Anfang. Der Anfang von einem Drama, das gerade begann, seinen Lauf zu nehmen.
Fleischgericht
Er sass an seinem Platz auf der Eckbank seiner offen gebauten Küche und würzte hingabevoll den Sud. Die Vorfreude auf das bevorstehende Hoffest war riesig. Er musste sich noch etwas gedulden, was ihn aber nicht am Probekochen hinderte. Heute gab’s Cormarye, ein Rezept aus dem Englischen. Und wie er sich auf die Leibspeise freute: er war hungrig, richtig hungrig auf das schlachtfrische Fleisch.
Erinnerungen an seinen verstorbenen Vater kamen in ihm hoch. Damals, als er selbst noch ein Kind war, hatte er oft mit ihm in der Küche gesessen und bei den Vorbereitungen helfen dürfen. An ganz speziellen Anlässen trank man dazu das kostbare Getränk – allerdings war dies den Erwachsenen vorbehalten. Noch zu Vaters Zeiten fanden die Rituale öfters statt. Nach den Überlieferungen gab es einst harte Zeiten des Hungers im Weiler. Ohne die Jagd hätten die Vorfahren nicht überlebt. Inzwischen hatte sich einiges verändert. Die wenigen Nachfahren, die heutzutage den Weiler belebten, gingen alle einer geregelten Arbeit nach und hatten sich in der Stadt eine Wohnung zugelegt, wie er selber, und er kam auch oft auf den Hof zurück. Es wäre undenkbar gewesen, sich wie früher auf die Jagd zu begeben und sich von der Beute zu ernähren. Er war gerade noch der einzige, der die Tradition zu pflegen verstand. Sein Vater hatte ihn in die Zeremonie eingeweiht und ihn mit dem Ritual betraut. Stolz wäre er auf seinen Sohn gewesen, wenn er hätte
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