Fleisch und Blut
schwaches Lächeln. »Und manchmal bekam sie ihren Willen - ich will es Ihnen zeigen. Ihre Zeugnisse liegen ganz unten.«
Während sie herumstöberte, fragte ich: »Nur um nichts auszulassen, wo ist Mark jetzt?«
Sie blickte auf. »Er? Oh, nein. Er ist direkt nach der Schule zur Army gegangen, wurde in Deutschland stationiert, heiratete eine deutsche Frau. Er war nicht im Lande, als Shawna verschwunden ist. Hat mir eine süße Beileidskarte geschrieben, als er davon hörte - die hab ich auch aufgehoben. Hier ist sie.«
Eine Hallmark-Karte mit Herzen und Blumen landete auf meiner Handfläche. Sentimentale Verse und eine Notiz in Druckbuchstaben:
Liebe Mrs. Yeager,
bitte nehmen Sie unsere aufrichtigsten Beileidswünsche wegen Shawna entgegen. Wir wissen, sie ist oben bei den Engeln.
Astrid und Mark Ortega mit Kaylie
An die Vorderseite war eine Aufnahme aus einem Fotostudio geheftet, die einen mageren, blonden jungen Mann mit Bürstenschnitt und Schnurrbart, eine pummelige Brünette und ein grinsendes Baby mit rundem Gesicht zeigte.
»Netter Junge«, sagte Agnes Yeager. »Aber Shawna war einfach zu viel für ihn. Sie brauchte jemanden, der sie intellektuell forderte. Der Herr weiß, dass ich dafür nicht geeignet war, ich hab nie die High School zu Ende gemacht - da wären wir, hier sind ihre Zeugnisblätter.«
Sie übergab mir einen von einem Gummiband zusammengehaltenen Stapel. Zwölf Schuljahre mit nahezu ausschließlich Einsen. Leistungstests durchgängig oberhalb von fünfundneunzig Prozent. Kommentare von Lehrern: »Shawna ist ein sehr kluges kleines Mädchen, aber sie neigt dazu, ihre Nachbarn zu besuchen.« »Eine wahre Freude, ich wünschte, alle wären wie sie.« »Hat den Lehrstoff fest im Griff und liebt das Lernen.« »Willensstark, macht aber schließlich immer die Arbeit.«
Das unterste Blatt des Stapels war eine Abschrift von der Uni.
Vier Kurse während des Quartals, das sie nicht beendet hatte. Ein Quartett »abgebrochener« Seminare.
»Das kam an, nachdem sie verschwunden war«, sagte Agnes Yeager. »Als ich den Umschlag aufmachte, hab ich die Fassung verloren. Das Wort. ›Abgebrochen‹. Wenn man in so einem Zustand ist, bekommt alles einen Doppelsinn. Man sucht nach etwas, an dem man seine Wut auslassen kann. Ich hätte das Blatt beinahe in Stücke gerissen. Jetzt bin ich froh, dass ich es nicht getan habe. Ich hab allerdings die Kleider weggegeben, die Shawna zurückgelassen hat. Bis vor ein paar Monaten hab ich damit gewartet, aber schließlich habe ich es tun können.«
Ich starrte auf die Abschrift, legte sie an ihren Platz zurück.
»Klug«, sagte sie. »Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja, Mrs. Yeager, das tue ich. Gibt es noch etwas?«
»Nun ja, Sie könnten mir sagen, was Sie unternehmen wollen.«
»Ich werde mir Shawnas Akte noch einmal ansehen. Ich weiß, das klingt vage und bürokratisch, aber ich fange gerade erst an. Darf ich Sie anrufen, falls mir etwas einfällt?«
»Das müssen Sie sogar.« Sie ergriff mit beiden Händen meine Hand. »Was Sie angeht, habe ich ein besonderes Gefühl. Sie sind ein ernsthafter Mensch. Was auch immer dabei herauskommt, Sie werden Ihr Bestes tun. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.«
»Danke«, sagte ich. »Ich hoffe, ich werde Ihr Vertrauen nicht enttäuschen.«
»Ich will meine Tochter nicht zurückhaben«, sagte sie. »Ich will sie nur begraben. Wissen, wo sie ist, damit ich sie an Weihnachten und Geburtstagen besuchen kann. Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt, nicht wahr?«
»Nein, Ma'am. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« Ich öffnete die Wagentür.
»Kann ich das zurückhaben?«, fragte sie.
Sie zeigte auf den Stapel Zeugnisblätter.
»Oh, klar. Entschuldigung.«
»Falls Sie von irgendwas eine Kopie brauchen, besorge ich sie Ihnen.«
Ich drückte ihr kurz die Hand und ging.
39
Siebzehn Uhr. Das Gebäude des Fachbereichs Psychologie war fast leer.
Ich entdeckte Gene Dalby im Gang. Er stand vor der Tür seines Büros, Schlüssel in der Hand, seine schlaksige Gestalt umrahmt von institutioneller Fluoreszenz.
»Kommst du oder gehst du?«, fragte ich.
»Alex - hallo. Ich gehe, um die Wahrheit zu sagen.«
»Hättest du ein paar Minuten Zeit für mich?«
»Sieh sich das einer an«, sagte er. »Ich bekomme den Burschen jahrelang nicht zu Gesicht, und jetzt gehört er fast zum Inventar.«
Ich sagte nichts. Mein Gesichtsausdruck machte seinem Lächeln ein Ende.
»Irgendwas nicht in Ordnung,
Weitere Kostenlose Bücher