Fleischmarkt
verachten. Die Diskrepanz zwischen den verbissenen Modellen der erotischen und sozialen Selbstinszenierung, die uns dargeboten wird, und der Realität unseres alltäglichen Lebens und der sich verändernden Körper kann unerträglich sein. Stars und Laufsteg-Models, von denen wir wissen, dass sie ständig hungern müssen, bringen uns scheinbar bei, wie man sich einerseits begehrenswert macht und andererseits von den eigenen körperlichen Begierden verabschiedet. Es ist naheliegend, nach der perfekten Kontrolle zu streben, die sie scheinbar verkörpern, danach, ein allgegenwärtiges Objekt zu sein und keine gewöhnliche Konsumentin. Nichts zu wollen, scheint leicht erlernbar zu sein, und ebenso scheint es einfach zu sein, die Regeln bis in ihre letzte, tragische Konsequenz zu beherrschen und jede Nahrungsaufnahme zu verweigern, den Körper zu bestrafen und mit der künstlichen Vorpubertät, in der er durch das Hungern chemisch dauerhaft gehalten wird, die Libido abzutöten. Es ist leichter, ein Zeichen zu werden, als zu versuchen, etwas zu bezeichnen. Letztlich ist es leichter zu sterben.
Die Chemie der Kontrolle
Dünnsein zu propagieren ist eine ideale Methode, um starke Frauen zu kontrollieren, die an der Schwelle zur Selbstbefreiung stehen, denn Essstörungen sind insofern ungewöhnlich, als dass sie eine politische und kulturelle Funktionsstörung mit tiefer physiologischer Wirkung darstellen. Aber es wäre unlauter, die politischen Auswirkungen der Essstörungen auf unser Genderverständnis zu diskutieren, ohne die medizinischen Grundlagen dafür zu kennen.
Anorexia nervosa ist die tödlichste aller seelischen Erkrankungen, weil ihre physischen und psychischen Wirkungen so grundlegend miteinander verwoben sind. Es wurde überzeugend nachgewiesen, dass längeres Hungern viele Symptome der Anorexia nervosa auslösen kann, etwa, dass die Leidenden vom Thema Essen total dominiert sind, depressiv, selbstzerstörerisch und selbstmordgefährdet werden. 1944 haben Wissenschaftler der Universität von Minnesota zum Beispiel 36 Wehrdienstverweigerer angeworben und systematisch hungern lassen – alle waren gesunde erwachsene Männer ohne psychische Probleme. Im Laufe eines Jahres verloren die Männer 25% ihres Körpergewichts und wurden dann wieder normal ernährt – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Alle Teilnehmer an der Studie begannen rasch, ungewöhnliche psychische Symptome zu zeigen. Sie reagierten depressiv, erregt und verwirrt und entwickelten bizarre Rituale rund ums Essen, unter anderem Rezeptesammeln und obsessives Horten von Nahrungsmitteln – nicht nur während des Experimentes, sondern teilweise für den Rest ihres Lebens. 14
Harold, einer der Teilnehmer, berichtete Wissenschaftlern im Jahr 2006, dass das Experiment höchst schmerzlich war, »nicht nur wegen der körperlichen Beschwerden, sondern, weil…Essen zur zentralen und einzigen Sache im Leben wurde. Wenn man ins Kino ging, war man nicht besonders an den Liebesszenen interessiert, sondern beobachtete genau, wann und was gegessen wurde.« Die Männer reagierten auf die Vorstellung einer Gewichtszunahme entsetzt, und zu ihren Reaktionen gehörten pathologische Selbstverletzungen. Ein Teilnehmer amputierte sich drei seiner eigenen Finger mit einer Axt.
Sofern man selbst nicht einmal über eine längere Zeit gehungert hat, kann man sich nicht vorstellen, was anhaltende Mangelernährung im Gehirn auslöst. Ganz egal, wie zwanghaft oder normal man vorher war, fängt man bald an, in kleinen, immer wiederkehrenden Kreisen über alles Mögliche nachzudenken. Man wird als Reaktion auf das, was das Gehirn als Hunger wahrgenommen hat, ängstlich, weinerlich, ist schnell wütend. Das Stammhirn wird hyperfokussiert und versucht, uns wachzuhalten, um nach etwas Essbarem zu suchen, egal was. Komische Angewohnheiten, Ablenkungen – Rauchen, Kaugummikauen, Alkohol, Koffein, Aufputschmittel – bekommen Suchtcharakter. Man kann nicht stillsitzen, kann sich nicht konzentrieren. Man wird wütend, irrational, paranoid, panisch. Schulnoten und Arbeitsleistungen werden schlechter, man verliert jede Hoffnung und seinen Ehrgeiz, weil man nur noch ans Essen denken kann und wie man es vermeidet. Man kann spüren, dass sich die Gedanken langsamer bewegen, wie in diesen Träumen, wenn man vor einer unbestimmten Gefahr durch dicken Schlamm weglaufen will. Gleichzeitig fühlt sich ein Teil der eigenen Person unbesiegbar. Man hat das Gefühl, dass man jeden physischen oder
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