Fleischmarkt
wenig Raum wie möglich einnehmen sollst. Ich weigere mich, mich so klein zu machen, dass ich in das enge und erstickende Korsett passe, das die Gesellschaft für junge Frauen bereithält. Von Zeit zu Zeit vermisse ich meine Essstörung noch. Ich vermisse das Gefühl der Kontrolle, das sich einstellt, wenn die Vermeidung von Nahrung dein höchstes Ziel ist. Aber heute, drei Jahre nach meiner Genesung, habe ich einen Studienabschluss, eine Karriere und einen riesigen Appetit auf Abenteuer. Ich bin hungrig, zu hungrig, um umzukehren, zu gierig und zu unersättlich, um mich zu unterwerfen und mich erneut zu reduzieren. Ich bin hungrig, immer noch hungrig. Aber das Fleisch und die Enttäuschungen des echten Lebens schmecken besser, als Dünnsein sich je angefühlt hat.
Furcht und Schrecken
Die Furcht vor dem weiblichen Fleisch und Fett ist die Furcht vor der weiblichen Macht, der sublimierten Macht der Frauen über Geburt und Tod und Schleim und Sex. In seinem Essay
The Roots of Masculinity
schreibt der Therapeut Tom Ryan, dass »die meisten Therapeuten von Männern hören, dass sie Angst davor haben, dominiert, kontrolliert, verschlungen oder erstickt zu werden. Unter diesen Ängsten … liegt eine tiefere Angst vor der Auflösung der Männlichkeit … Dave, ein 30-jähriger Berufstätiger, wünscht sich seine Partnerinnen ›fest und drahtig‹. Sie dürfen kein bisschen weich oder dick sein, vor allem nicht die Brüste. Wenn Dave Frauen begegnete oder mit ihnen zusammen war, die er ›fett‹ oder ›dicklich‹ fand, fühlte er sich verloren oder von ihrem ›Fleisch‹ verschlungen.« 15
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die zunehmende Emanzipation der Frau mit einem stärker werdenden Tabu gegenüber weiblicher Korpulenz ausgeglichen – nicht nur bei Frauen mit Übergewicht, sondern gegenüber weiblichem Fett überhaupt, überall. Cellulite, schlaffe Bäuche, Fett an den Armen, natürliche Prozesse, die alle weiblichen Körper nach der Pubertät früher oder später durchmachen, sogar die hagersten, werden besonders verabscheut. Wenn weibliche Körper geduldet werden, müssen sie so schlank und drahtig wie möglich sein. Die Drohung, das patriarchale Geburtsrecht könne ›verschlungen oder erstickt‹ werden durch die Gleichstellung der Geschlechter, manifestiert sich in der Furcht vor dem weiblichen Fett. Und diese phobische Reaktion auf die Realität der weiblichen Körperlichkeit haben Frauen und Männer in der westlichen Welt verinnerlicht. Sobald das weibliche Kind sich seines physischen und spirituellen Selbst bewusst wird, lernt es, dass dieses Selbst exzessiv ist und beschränkt werden muss.
Es ist kein Zufall, dass die zeitgenössischen Medien ihre Faszination für die Essstörungen berühmter Frauen ganz explizit dem Erfolg dieser Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung gegenüberstellen. Es ist eben nicht genug, dass Frauen wie Victoria Beckham und Angelina Jolie übernatürlich dünn sind, wir müssen ihnen auch beim Hungern zusehen, müssen sehen, wie sie leiden, um so dünn zu sein, damit das Hungern und Leiden ihren persönlichen Erfolg in der öffentlichen Wahrnehmung dominieren. Die Schauspielerin Keira Knightley, deren schmaler Körperbau offenbar auf eine genetische Disposition zurückzuführen ist, hat viel Zeit damit zubringen müssen, Behauptungen der Medien zu widerlegen, sie sei magersüchtig. 2007 hat Knightley erfolgreich die Zeitung
Daily Mail
verklagt, die nahelegte, sie leide an Anorexie oder einer ähnlichen Essstörung und würde die Öffentlichkeit darüber täuschen.
Riot, don’t diet
Die Gesellschaft muss den Hunger der Frauen anerkennen. Nicht nur unseren Hunger nach den 2500 Kalorien pro Tag, die wir brauchen, um genug Energie für ein volles und interessantes Leben zu haben, sondern auch unseren Hunger nach Leben, nach Liebe, nach der Ausweitung unseres Horizontes, unseren Hunger nach leidenschaftlicher Politik, unseren Hunger danach, Raum einzunehmen und aus unserem eigenen Fleisch heraus zu leben und zu handeln. Das Grauen der Öffentlichkeit vor weiblichem Fleisch und die krankhafte Faszination der Gesellschaft für Essstörungen sind Teil der patriarchalen und kapitalistischen Kontrolle, die auf dem Grauen vor der körperlichen Kraft der Frau basiert.
Ratgebertexte für Frauen, von
Cosmopolitan
bis hin zum
Ancrene Wisse
, einem Handbuch für Einsiedlerinnen aus dem 12. Jahrhundert, propagieren Selbstverleugnung als Parole und Richtlinie, außer für bestimmte
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