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Fleischmarkt

Fleischmarkt

Titel: Fleischmarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Penny
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Entscheidung für einen bestimmten Lebensstil, die von reichen oder berühmten Frauen getroffen wird, nur um dünn genug für die angesagten Klamotten der nächsten Saison zu sein. Aber es ist überhaupt nicht glamourös, jede wache Sekunde so hungrig zu sein, dass du kaum stehen kannst. Kein einziges Mal während meiner Erkrankung, wenn ich über einer Bahnhofstoilette kauerte, um mit zwei Fingern im Hals die zu schleimigen Klumpen gewordenen Cracker wieder rauszuwürgen, die mein Abendessen gewesen waren, dachte ich dabei: »Hey cool, ich lebe meinen Traum!«
    Die Wirklichkeit des Lebens mit Magersucht ist sehr weit entfernt von einem Laufsteg. Das tägliche Gewürge und die Quälerei einer Essstörung sind nicht nur ekelhaft, sondern auch total öde. Meine kleine Schwester, die damals zwölf war, sagte mir: »Du warst überhaupt nicht lustig, als du krank warst. Du hast immer nur übers Essen geredet, und selbst wenn nicht, dann war klar, dass du daran dachtest. Ganz ehrlich: Es war einfach trist, mit dir im selben Raum zu sein. Du warst nicht du selbst.«
    Wenn du magersüchtig bist, schrumpft die Welt auf die Größe eines Tellers. Du ziehst dich von Freunden und der Familie zurück, vergisst Musik, Bücher und Politik, die dir früher wichtig waren, du kannst dich auf nichts anderes konzentrieren als auf die Frage, wo das nächste Essen nicht herkommt. Du sagst dir selbst, dass nichts so gut schmeckt, wie Dünnsein sich anfühlt, aber wenn du es geschafft hast, wahnsinnig dünn zu sein, hast du die Fähigkeit, überhaupt etwas zu fühlen, vollständig verloren.
    Im Krankenhaus war es furchtbar: die ungemütliche Station, die endlosen medizinischen Tests, die Schlösser in den Türen. Die junge Frau im Zimmer nebenan hieß Lianne und war vor ihrer Erkrankung als Apothekerin erfolgreich. Sie verbrachte ihre Tage damit, Bilder von Fotomodellen auszuschneiden und in ihr Sammelalbum zu kleben, während sie am Tropf hing.
    Nach meiner ersten Woche im Krankenhaus riss sich Lianne den Schlauch für die künstliche Ernährung raus und rannte aus der Station, fest entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie war so schwach, dass sie im Bus in die Innenstadt zusammenbrach. Als ich den Krankenwagen unter meinem Fenster anhalten sah, der Lianne zurück ins Krankenhaus brachte, wurde mir klar, dass ich die Wahl hatte: Ich konnte mich dafür entscheiden, krank zu bleiben und wie Lianne zu werden, also ein vertrocknetes und beschädigtes Halbleben zu leben, das aus Krankenhausaufenthalten und Phasen des Hungerns besteht, oder ich konnte es wagen, über die Möglichkeit eines anderen Lebens nachzudenken. An diesem Abend verzehrte ich mein erstes richtiges Abendessen seit mehr als zwei Jahren.
    Wieder zu essen ist extrem schwierig, wenn ein Teil von dir denkt, dass du es verdienst zu hungern. Und es ist noch schwieriger, wenn du umgeben bist von Bildern, auf denen Frauen gezeigt werden, die genauso dürr und elend aussehen wie du, und wenn diese Frauen als Ideal hingestellt werden, dem du nacheifern sollst. Je weicher und weiblicher mein Körper wurde, desto überdimensionierter fühlte ich mich. Ich verglich mich mit den perfekten Models auf den Coverseiten der Illustrierten und das Fleisch und der Gestank meines neuen Körpers ekelten mich an. Aber irgendwie, aus schierer Sturheit, hielt ich durch. Egal, wie abgestoßen ich mich fühlte, ich aß meine Mahlzeiten mit der freudlosen Effizienz eines Roboters. Ich hatte entschieden, etwas zu finden, das besser schmeckte als Dünnsein.
    Die Genesung nach einer Essstörung ist schwierig zu messen, denn es gehört so viel mehr dazu, als Gewicht zuzulegen: Du musst dich selbst davon überzeugen, das du einen Platz auf der Welt verdienst und außerdem die ganze Unordnung, den Hunger deines Fleisches, deines Geistes, deine Lust und deinen Ehrgeiz aushalten. Selbst wenn du deinen normalgewichtigen Körper so sehr hasst, dass du am liebsten Stücke aus ihm herausreißen möchtest, musst du aufstehen, deine Mahlzeiten essen und deinen Alltag bewältigen. Du musst lernen, diese drei schrecklichen kleinen Wörter auszusprechen: Ich habe Hunger.
    Heutzutage bin ich immer hungrig – manchmal auf ein Sandwich, manchmal auf Sex oder Arbeit oder Reisen oder auf eine Veränderung; manchmal möchte ich einfach nur jemanden umarmen. Ich habe gelernt, dass es in Ordnung ist, kein liebes kleines Mädchen zu sein, dass es in Ordnung ist, Regeln zu brechen, selbst wenn man dir sagt, dass du so

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