Flieh solange du kannst
Kontrolle. Manuel würde Juanita niemals verdächtigen. Er vertraute ihr. Jeder vertraute Juanita.
Wie zur Bestätigung nickte sie entschieden und ging zurück in die Küche, wo sie sich Juanitas Kopftuch umband und den Mantel anzog. Jetzt oder nie. Sie musste ihre Chance nutzen, es gab kein Zurück mehr. Irgendwie würde sie es schaffen, ein neues Leben für sich und Dominick zu beginnen. Und in diesem Leben gäbe es keinen Mann, der sie wie sein Eigentum behandelte.
Dominick schaute von seinen Magnetbuchstaben auf: “Warum verkleidest du dich, Mommy?”, fragte er.
“Heute spielen wir dieses Spiel, für das wir so lange geübt haben.” Sie zog sich Juanitas Sonnenbrille auf und benutzte ihren dunklen Lippenstift. Lange hatte sie große Ängste ausgestanden, dass Dominick Manuel von dem Spiel erzählen würde. Dafür zu üben, war wirklich riskant gewesen. Glücklicherweise machten sie ständig irgendwelche Rollenspiele, und so war es kein besonderes Thema gewesen. “Wir wollen mal herausfinden, ob irgendjemand erkennt, wer ich in Wirklichkeit bin.”
“Soll ich mich auch verkleiden?”
“Nein, du sollst nur so tun, als ob ich Juanita wäre. Wenn wir nach draußen gehen, fasst du mich an der Hand. Wir gehen genauso zum Auto wie sonst, wenn du mit Juanita zum Einkaufen oder in die Bücherei gehst.”
“Nö, Mommy. So geht unser Spiel doch nicht. Ich bin Max, der Junge aus meinem Bilderbuch. Und du bist eine Dame namens Emma.”
Für ihren Sohn hatte Vanessa den Namen Max ausgesucht, weil er in seiner Lieblingsgeschichte vorkam. Außerdem würde Manuel den Namen niemals mit ihm in Verbindung bringen. “Das spielen wir auch noch. Gleich nachdem wir losgefahren sind.”
“Ach so. Zuerst bist du Juanita und dann Emma.” Dominick war ganz begeistert. Dann folgte er ihnen ins Schlafzimmer und bemerkte die beiden gepackten Koffer. Verwundert beobachtete er Juanita dabei, wie sie einen davon in einen großen schwarzen Müllsack steckte und auf die Veranda schleppte.
“Wieso werfen wir unsere Koffer weg?”
“Das tun wir gar nicht”, sagte Vanessa, während sie den zweiten Koffer in einen Müllsack steckte und nach draußen trug. “Carlos wird sie später für uns abholen.”
“Spielt er auch mit?”, fragte Dominick auf dem Weg zurück in die Küche.
Vanessa stopfte den Rucksack in eine Mülltüte und brachte ihn ebenfalls nach draußen. “So ähnlich. Wir treffen ihn später an der Straße.”
“Aber warum brauchen wir denn die Koffer? Wollen wir verreisen?”
“Ja”, sagte Vanessa und spürte dabei eine so große Erleichterung, dass sie Juanitas Hand ergreifen musste.
“Wohin denn?”, fragte Dominick.
Weit weg, so weit wir können.
“Du wirst schon sehen. Es ist eine Überraschung.” Sie blieb im Wohnzimmer stehen, um auf Carlos zu warten, der angelaufen kam. Von der Veranda aus schaute er herein und nickte ihr zu. Dann packte er den ersten Koffer wie einen Sack mit Abfällen und trug ihn um das Haus herum zu seinem Lieferwagen.
Als Vanessa zur Haustür eilte, versagten ihr fast die Beine. Sie umarmte Juanita und fragte auf Spanisch: “Wirst du das auch schaffen?”
“Aber natürlich. Wir haben doch alles abgesprochen.”
“Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.”
Juanita nahm einen Zettel aus der Tasche und reichte ihn ihr.
“Was ist das?”
“Die Telefonnummer von meiner Schwester Rosa. Wir können uns über sie verständigen. Rufen Sie mich an, wenn Sie irgendetwas brauchen.”
Vollkommen überrascht starrte Vanessa auf den zerknitterten Papierfetzen. “Du hast mir nie erzählt, dass du eine Schwester hast …”
“Genau. Manuel weiß auch nichts von ihr. Manche Sachen behalte ich lieber für mich.”
“Wo wohnt sie denn?”
“Ungefähr eine Stunde von hier entfernt.”
Vanessa griff nach Juanitas Arm und drückte ihn heftig. “Geh zu ihr, Juanita. Geh zu ihr und komm nie mehr zurück.” Sie trat näher an sie heran und flüsterte ihr den Rest ins Ohr: “Manuel … er … er ist schlecht.”
“Er vergreift sich nur an Ihnen”, flüsterte Juanita zurück. “Bringen Sie sich in Sicherheit. Ich wünsche Ihnen alles Glück der Welt.”
Nachdem Juanita sich von Dominick verabschiedet hatte, nahm Vanessa ihren Sohn an die Hand. Mit gesenktem Kopf und leicht humpelnd wie die wesentlich ältere Juanita ging sie hinaus in das sanfte Sonnenlicht des klaren Augusttages.
Carlos hatte das unscheinbare weiße Auto in der Auffahrt geparkt. Als Vanessa es sah,
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