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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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lacht ein kraftloses Lachen.
    »Was für ein Optimist du geworden bist. Oder spielst du’s nur für mich?«
    »Sag mir, was ich tun kann, Maria.«
    »Ich hab mich mir selbst nie so fremd gefühlt.« Ihr gemeinsamer Schatten fällt bis in die Mitte der Brücke. Hartmut weiß, was kommt, er hat es oft gehört. »Alle sind in Verzückung geraten, wenn sie nur ihre Hände gesehen haben. Und das Lächeln, und die Augen. Und ich? Stell dir vor, wie es ist, wenn jemand alle Wärme aus dir rauszieht. Auf nichts kannst du mit Empathie und Liebe reagieren. Nicht mal auf dein eigenes Kind. Wenn das die milde Form ist, dann ...«
    »Es war nicht deine Schuld. Außerdem sehe ich nicht, dass es für Philippa die geringsten Folgen gehabt hätte. Wenn du sicher wüsstest, dass es beim nächsten Mal anders wird – würdest du’s dann trotzdem nicht wollen?«
    »In Bonn?«, fragt sie.
    Hartmut presst die Lippen zusammen, um den Seufzer nicht herauszulassen, der ihm in der Kehle sitzt. Heute Vormittag auf dem Balkon hat sie sich selbst undankbar genannt, und er wollte nicht denken, dass er sie insgeheim genau dessen bezichtigt. Nach dem Ende seiner Dortmunder Vertretung sind sie ins Umland gezogen, in ein kleines Häuschen mit Garten, wie junge Familien es in Werbespots für Schwäbisch-Hall tun. Weiße Wände und grüner Rasen, aber um die gestiegenen Kosten zu stemmen, musste er jeden Lehrauftrag annehmen, der im Umkreis von zweihundert Kilometern angeboten wurde. Maria kannte keinen Menschen da draußen. Verstand das komische Deutsch nicht, in dem Mütter am Spielplatz nach ihren Kindern riefen. Als ein arbeitsloser Lehrer aus der Nachbarschaft ihr nachzustellen begann, wurde es unerträglich. Ein triefäugiger Jammerlappen mit einem Kind in Philippas Alter. Auch seinetwegen war der Ruf nach Bonn eine Erlösung. Endlich entkamen sie den finanziellen Zwängen und der beruflichen Ungewissheit. Philippa ging in den Kindergarten, Maria erholte sich – und begann prompt, jeden verfügbaren Artikel über die neue Hauptstadt zu lesen. Während er sich noch zwicken musste morgens vor dem Spiegel, weil er nicht glauben konnte, dass er es wirklich geschafft hatte, wartete seine Frau schon auf denTag, an dem er nach Hause kommen und sagen würde: Schatz, wir packen, ich hab eine Professur in Berlin.
    Wenn es nicht Undank ist, dann ein naher Verwandter.
    »Ist es wirklich so schlimm in Bonn?«, fragt er jetzt. »Ich meine, es liegt an uns, die Mittel zu genießen, die wir haben. Im Moment leben wir unter unseren Verhältnissen. Warum eigentlich?«
    »Ja.«
    »Ja – als Antwort worauf?«
    »Es ist, als würde ich mehr und immer noch mehr von dir verlangen. Dabei will ich das gar nicht. Es hat mir nichts ausgemacht, wenig Geld zu haben. Ich hatte mein ganzes Studium über nichts. Das ist nicht der Punkt.«
    »Sicher? Jede Mark umdrehen müssen, bevor man sie ausgibt. Jeden Morgen das Bett in den Schrank klappen. Mein Traum sieht anders aus.«
    »Wie sieht er aus?« Sie legt den Kopf in den Nacken und schaut ihn an. Offenbar hat sie geweint, ohne dass es ihm aufgefallen ist.
    »Wie du«, sagt er. »Wie du und ich und Philippa. Und vielleicht noch ein zweites Kind, das uns nachts den Platz im Bett streitig macht. So sieht er aus.«
    Kurz stellt sie sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn.
    »Hab ich heute Mittag gesagt, dass ich dich liebe?«
    »Ich will nicht kleinlich sein, aber, nein, hast du nicht.«
    »Tu ich aber.«
    »Stattdessen hast du gefragt, ob du weißt, wer ich bin, und ob ich weiß, wer du bist. Und hast dabei dreingeschaut, als wäre was Schlimmes passiert.«
    »Du hast ein schwieriges Weib geheiratet.«
    »Es wird weitere Stellen geben, Maria. Der ganze Osten braucht neue Professoren, auch der Osten von Berlin. Und ich werde mich bewerben, wie versprochen. Ich kann bloß weder hellsehen noch zaubern. Okay?«
    »Okay.«
    Dabei belassen sie es. Gehen den Weg hinauf ins alte Dorf, in dem seit Stunden niemand mehr unterwegs ist. Selbst die Glocken der Kirche werden erst morgen um sieben wieder läuten. Sie schlendern Hand in Hand, jeder den Blick auf die eigenen Füße gerichtet. Warum fühlt er sich, als würde er ihr etwas schulden? Es war ein merkwürdiges Gefühl, als er zu seinem Bewerbungsvortrag nach Berlin reiste. Sein erster Besuch seit damals, und er hat sich ganz aufs Berufliche konzentriert. Ist vom Bahnhof Zoo direkt nach Dahlem gefahren. Am Institut hat er seinen Vortrag gehalten, das Gespräch mit der

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