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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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versucht er sich an das Wenige zu erinnern, das er über Santiago de Compostela weiß. Gallego heißt die von Portugiesisch kaum zu unterscheidende Sprache, die dort gesprochen wird. Warum Philippa ausgerechnet in dieser Stadt ihr Spanisch vervollkommnen will, ist ihm ein Rätsel. Via Skype hat er letzte Nacht mit ihr gesprochen und eine Verabredung für den Nachmittag getroffen. Um Zeit zu sparen, verzichtet Hartmut auf seine morgendliche Rasur und beschließt, das Auto zu holen, während seine Mitfahrerin frühstückt.
    Den gefalteten Zettel unter der Tür entdeckt er erst beim Verlassen des Badezimmers. Sofort fällt ihm Marijkes gestrige Umarmung ein und dass er gedacht hat, so verabschiedet man sich nicht für eine Nacht. Jetzt stehen zwei Zeilen unter dem schlichten Briefkopf der Pension und bestätigen seine Befürchtung: Ich bin sicher, du wirst das verstehen. Es war schön mit dir. Vielen Dank und alles Gute, M.
    Sonst nichts.
    Enttäuscht setzt er sich aufs Bett und widersteht dem Impuls, ans Fenster zu stürzen, um nach ihr zu sehen. Vielleicht lag der Zettel schon länger dort. Die nach rechts geneigte Handschrift erinnert ihn an seine eigene. Nicht hastig, aber entschieden. Weder E-Mail-Adresse noch Handynummer hat sie ihm hinterlassen, erst recht keinen Hinweis darauf, wohin sie aufgebrochen ist. Nachdem er die Nachricht ein paar Mal überflogen hat, findet er die Geste nicht mehr schnöde, sondern angemessen. Spurlos zu verschwinden passt zu ihr. Außerdem schuldet sie ihm nichts und muss selbst wissen, was sie tut.
    Dir auch alles Gute, denkt er, knüllt den Zettel zusammen und packt seine Sachen. Gestern in der Werkstatt hat er die Utensilien für eine Nacht in seinen schwarzen Rucksack gestopft, den er sich jetzt lässig über die Schulter hängt, als er nach unten geht, um die Rechnung zu begleichen. Auf den morgendlichen Kaffee verzichtet er. Um zwanzig nach neun tritt er hinaus auf die Straße.
    In der Altstadt sind um diese Zeit nur Lieferanten unterwegs. Fässer werden gerollt und Kisten geschleppt. Hartmut überquert die leere Plaza Mayor und steigt die Stufen hinab zum Fluss. Schwalben schwirren durch die kühle Morgenluft, dann die blechernen Schläge einer Kirchturmuhr, die er auch in der Nacht gehört hat. Nach der Rückkehr aus der Bar konnte er nicht einschlafen. Eine halbe Stunde lang hat er sich hin und her gewälzt und mit sich gerungen, dann war der Kampf entschieden. Er stand wieder auf und schaltete den Computer ein. Ging auf die Google-Seite. Tereza Ortez hieß sie. UnzähligeTreffer erschienen, aber nachdem er den ersten zwanzig nachgegangen war, ohne einen Hinweis auf seine frühere Freundin zu erhalten, brach Hartmut die Suche ab. Sagte sich, dass sie längst ihr Glück gefunden und den Nachnamen geändert hatte. Gewissensberuhigung gehört zu den wenigen Dingen, die man nicht übers Internet beziehen kann. Unter Marijkes Namen stieß er auf Kolumnen, die sie für ein Online-Magazin namens kras geschrieben hatte. Eine klickte er an, verlor auf halbem Weg das Interesse und legte die Finger unschlüssig auf die Tastatur. Sollte er sich wieder anziehen und einen Spaziergang machen? Zurück in die Bar gehen? Im nächsten Moment erschien am oberen Bildrand die Meldung ›Philippa ist online‹. Seit Neuestem informierte ihn der Computer, wenn einer seiner beiden Skype-Kontakte erreichbar war, und jetzt konnte er nicht widerstehen.
    Er klickte zwei Mal, dann ertönte wie von weit her ein Freizeichen. Mitternacht war vorüber, und je länger es klingelte, desto mehr fühlte er sich wie ein Störenfried. Gerade wollte Hartmut auf den roten Hörer klicken, als sich der Bildschirm umbaute. Die rechte Hand zum Gruß erhoben, saß Philippa in einem dämmrigen Zimmer, trug den blauen Kapuzenpulli ihrer Hamburger Uni und sagte: »Hola Papá.«
    Sein eigenes Gesicht hockte in einem Fenster am Bildrand. Zaghaft winkte er in die Kamera. »Hallo. Stör ich dich?«
    Seine Tochter schüttelte den Kopf. Die neuerdings kurzen Haare standen ihr gut, betonten das hübsche Gesicht mit Marias grünen Augen und passten zu seinen eigenen, ins Weibliche gewendeten Zügen: der großen Nase und dem relativ starken Kinn. Insignien einer willensstarken Person. Statt das Gespräch in Gang zu bringen, lächelte er sie ein paar Sekunden in stummem Vaterstolz an. Forschend näherte sich Philippa dem Bildschirm.
    »Du bist nicht in Bonn.«
    »Schon lange nicht mehr, ich bin in Spanien. In den Picos de Europa,

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