Fliehkräfte (German Edition)
genauer gesagt.«
»Was machst du plötzlich in Spanien?«
»Eigentlich wollte ich schon in Santiago sein, aber leider hatte das Auto eine kleine Panne. Also müssen wir eine Nacht hier verbringen. Sieh dich vor, morgen bin ich bei dir.«
»Wir?«
Nebenan wurde das Fenster geöffnet und wieder geschlossen. Wahrscheinlich dachte Marijke darüber nach, wie sie es schaffen könnte, ihren Verlobten nur um seinetwillen zu lieben und den Bassisten zu vergessen. Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen.
»Ich.«
»Du hast ›wir‹ gesagt.«
»Eine unserer liebenswerten, rückwärtsgewandten Schrullen. Aber sprecht selbst, Philippa von Compostela, wie geht es Euch?«
»Dreh mal bitte den Laptop.«
»Flippa ...« Mit einem Seufzer gehorchte er und verfolgte im kleinen Fenster seine Kameraführung. Die schmale Tür zum Bad, der winzige alte Fernseher. Weil Marijke sich nicht hatte einladen lassen und er ihr Budget nicht kannte, wohnte er so spartanisch wie lange nicht mehr. Konnte von Glück sagen, dass es einen funktionierenden Internetanschluss gab, obwohl dieses Glück sich gerade gegen ihn wendete.
»Andere Seite«, befahl seine Tochter.
Kurz verharrte er bei dem schmalen Einzelbett, dann stellte er den Laptop wieder ab und bemühte sich um eine vorwurfsvolle Miene. Eigentlich gefiel ihm diese Loyalität zur elterlichen Ehe – falls er Philippas Detektivarbeit so verstehen durfte.
»Zufrieden? Ich hab eine Frau mitgenommen, die mich am Morgen auf dem Parkplatz angesprochen hat. Eine junge Holländerin, die bald heiraten wird und keine Abenteuer mit älteren Männern sucht.«
»Du machst also Urlaub«, sagte sie, als würde er ständig vom Thema abkommen.
»Ja. Ich brauchte eine Auszeit von der Uni und hab endlichBernhard Tauschner besucht. Schöne Grüße übrigens. Dann dachte ich, jetzt kann ich auch durchfahren bis Santiago. Freust du dich?«
Darauf antwortete Philippa nicht, sondern drehte an ihrem Nasenring und schien einen Blick zu wechseln mit jemandem, der hinter dem Laptop stand.
»Ist das dein Zimmer?«, fragte er.
»Yep.« Klein, aber mit hoher Decke, wenn er es richtig erkannte. Ein Bett, eine Fensterbank, mehr war nicht auszumachen. Das wenige Licht fiel durch eine offene Tür herein.
»Sieht hübsch aus.«
»Billig ist es. Du solltest das Bad sehen.« Sie schüttelte sich und musste lachen.
»Ich weiß, es ist schon spät, aber ich wollte mich wenigstens ankündigen. Wenn der Automechaniker seine Zusage hält, könnte ich am späten Nachmittag ankommen. Morgen Nachmittag.«
»Ausgerechnet morgen geht mein Unterricht länger.«
»Notfalls beschäftige ich mich ein paar Stunden selbst. Keine neue Situation für deinen Vater.« Nebenan glaubte er, Marijke telefonieren zu hören.
»Okay, wie du meinst«, sagte Philippa. »Wie ich dich kenne, hast du schon ein Hotel gebucht.«
»Du hast angedeutet, du kennst eins in deiner Nähe.«
»Nicht in meiner Nähe, in der Altstadt. Du willst auf jeden Fall in der Altstadt wohnen. Ich bin ein paar Kilometer außerhalb untergebracht, am Nordcampus.«
»Was auch immer am praktischsten ist«, sagte er.
»Warte einen Moment.« Philippa stand auf und gab den Blick frei auf das schemenhafte Stillleben ihres Zimmers. Unverkennbar war es ein auf Zeit bezogenes Domizil, karg und – der Ausdruck schoss ihm durch den Kopf – konspirativ. Was er für die Bettkante gehalten hatte, entpuppte sich als Umzugskiste vor einer auf dem Boden liegenden Matratze. Daneben stapelte sich ein halbes Dutzend Bücher. Der Anblick erinnerte ihn an Marias Wohnung in Pankow.
Aus dem Lautsprecher rauschte und pfiff es. Jemand lief so dicht an der Kamera vorbei, dass Hartmut nicht erkennen konnte, ob es sich um Philippa oder eine andere Person handelte. Wartend saß er vor dem Bildschirm, betrachtete seine eigene missmutige Miene und horchte auf Gesprächsfetzen im Hintergrund. Im ersten Semester hatte er seiner Tochter den einen oder anderen Tipp zur Studienplanung geben können, ohne dass sie es aufdringlich fand. Mittlerweile schien seiner väterlichen Anteilnahme ihrerseits das nachlassende Bemühen zu entsprechen, den alten Mann in Bonn auf dem Laufenden zu halten. Maria mochte beschwichtigend von Abnabelung reden, er spürte die stärker werdende Drift. Sein Verdacht war, dass Maria ihrer Tochter von dem großen Streit erzählt hatte und Philippa auf Abstand ging zu dem brüllenden Tyrannen, der in ihm schlummerte. Aus Angst, Groll oder weiblicher
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