Fluch von Scarborough Fair
Vielleicht.«
Lucy und Zach sahen sich lange und erstaunt an, und dann lächelten sie beide erschöpft.
» Ich werde dich und Dawn so bald wie möglich ins Krankenhaus bringen«, versprach Zach. » Aber zuerst machen wir euch beide sauber.«
» Ich möchte sie halten«, sagte Lucy.
» Ja.«
Doch kaum lag die noch etwas blutverschmierte Dawn Greenfield in Lucys Armen, wo sie sich beruhigte und sogar ein bisschen gurrte, peitschte draußen der Sturm wieder heftiger ums Haus. Gleichzeitig erfüllte plötzlich ein seltsamer Duft das Schlafzimmer. Lucy kannte diesen Duft. Sie hatte ihn schon dort draußen in der Bay of Fundy wahrgenommen.
Kapitel 56
Der Elfenritter stand vor ihr– schön, prächtig und mit einem Lächeln. » So sehen wir uns wieder«, sagte er. » Es wird Zeit, dass du zu mir kommst, Lucinda. Wie vereinbart.«
Ein Kälteschauer überlief sie. Der Handel, den sie am Ende mit dem Ritter geschlossen hatte, bevor Zach sie dazu brachte, ihre Aufgabe zu erfüllen. Was hatte sie getan?
» Verschwinden Sie!«, zischte Lucy und biss die Zähne zusammen, obwohl sie innerlich schon jede Hoffnung aufgegeben hatte.
» Luce?«, fragte Zach. » Was ist los? Bist du okay?«
» Meine süße, störrische Lucinda«, sagte der Elfenritter. » Du hast mich mit deinen Anstrengungen prächtig unterhalten, und ich freue mich schon auf unsere gemeinsame Zukunft.«
» Luce?«, fragte Zach noch einmal unsicher.
Zach ging zu Lucy und legte besorgt seine starke Hand auf ihre Schulter. Lucy neigte den Kopf zur Seite und schmiegte ihre Wange an seine Hand. Und im selben Moment blickte sie in das seltsam verschrumpelte Gesicht ihres neugeborenen Kindes. Dawn schien zu überlegen, ob sie schreien sollte oder nicht. Mit der Fingerspitze zeichnete Lucy sanft den Rosenmund und die Rundung der zarten Wange des Babys nach. Das kleine Bündel schien sich erst einmal gegen ein Lungentraining entschieden zu haben und kuschelte sich hilflos und vertrauensvoll an Lucy. Dawn brauchte ihre Mutter.
Dies war dasselbe kleine Wesen, das Lucy schon geliebt und gehegt hatte, als es noch eine winzige Zelle gewesen war. Lucy hatte hart für ihr Leben gekämpft. Und nun war sie da. Ein lebendiger Mensch. Lucys Tochter. Und, dachte Lucy plötzlich, die Tochter des armen, betrogenen, in die Falle gelockten und ermordeten Gray Spencer.
Bei diesem Gedanken empfand sie Trotz und Wut. Dawns leiblicher Vater würde sie nie sehen und nie halten können. Er konnte sie nicht einmal ablehnen, wenn er das gewollt hätte. Sein ganzes Leben und alles, was dazugehörte, war ihm gestohlen worden.
» Bist du okay, Luce?«, fragte Zach erneut.
Lucy sah auf und bemerkte die Sorgenfalte auf der Stirn ihres Mannes.
Sie ist jetzt Zachs Tochter, dachte Lucy. Unsere Tochter. Kinder brauchen ihre Eltern. Vater und Mutter!
Die Wut, die in Lucy brannte, wärmte sie und bekämpfte ihre Verzweiflung, Resignation und Angst. Sie dachte an die Gesichter ihrer Ahnen, in die sie in der Bay of Fundy geblickt hatte. Die Scarborough-Mädchen. Ihnen waren ihr Leben, ihre Zukunft, ihre Seele und ihre Kinder geraubt worden. Und wer weiß, wie viele Männer zusammen mit ihnen benutzt und fallengelassen worden waren?
Aber wie sollte sie sich wehren? Lucy hatte keine Ahnung. Hoffnungslosigkeit machte sich wieder breit.
» Lucy?«, fragte Zach noch einmal. » Du bist doch okay, oder?«
» Nein! Ich bin nicht okay, Zach–« Ihre Stimme klang verzweifelt. » Der Elfenritter ist hier. Hier in diesem Zimmer, und er will mich.« Einem inneren Zwang folgend sah sie den Elfenritter an, der lautlos über sie lachte. Lucy drückte das Baby fest an sich.
Zach sah in die Richtung, in die Lucy die ganze Zeit starrte, aber sein Blick streifte über den Ritter hinweg, als ob er gar nicht da wäre. Dann sah er wieder Lucy an. » Okay«, sagte er unsicher, und seine Hand glitt von ihrer Schulter.
Der Ritter lachte jetzt laut, und da Zach nicht reagierte, wusste Lucy, dass er es nicht hören konnte.
Der Elfenritter machte einen kleinen, bedächtigen, fast provozierenden Schritt auf Lucy zu.
» Glaub mir, Zach. Er ist genau dort!« Lucy deutete mit der Hand auf einen bestimmten Punkt. Doch es war zwecklos. Das war der Anfang vom Ende. Jetzt würde sie in die Falle gelockt, versklavt und » verrückt«. Für den Rest ihres Lebens.
Vielleicht hatte sie Glück und ihr Leben war nur kurz.
Ein letztes Mal wandte sie sich an ihren Mann. Sie tat es in der Gewissheit, dass er sie nicht retten
Weitere Kostenlose Bücher