Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Fertiggerichte und etwas gefrorenes Hackfleisch. Kochen, so schien es, war für Beryl weniger eine Leidenschaft als ein notwendiges Übel gewesen. Ich dachte daran, wie meine eigene Küche aussah. Diese hier wirkte dagegen niederschmetternd nüchtern. Winzige Staubpartikel schwebten in dem fahlen licht, das durch die Schlitze der teuren grauen Jalousien vor dem Fenster über dem Spülbecken fiel. Die Spüle und das Becken waren leer und trocken. Die modernen Küchengeräte sahen unbenutzt aus.
»Sie könnte natürlich auch hierhergekommen sein, um etwas zu trinken«, mutmaßte Marino.
»Wir haben in ihrem Blut keinen Alkohol gefunden«, entgegnete ich.
»Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht daran gedacht hat, einen Drink zu nehmen.«
Er öffnete einen Hängeschrank über der Spüle. Die drei Regale waren bis zum letzten Zentimeter vollgepackt. Jack Daniel’s, Chivas Regal, Wodka, Liköre, aber etwas fiel mir besonders auf. Vor dem Cognac im obersten Regal stand eine Flasche mit Barbancourt-Rum aus Haiti, fünfzehn Jahre alt und so teuer wie ein guter Single Malt.
Ich nahm die Flasche mit meiner behandschuhten Hand heraus und stellte sie auf die Theke. Sie hatte keine Steuerbanderole, und die Versiegelung des goldenen Schraubverschlusses war noch intakt.
»Ich glaube nicht, dass sie den hier gekauft hat«, sagte ich zu Marino. »Vermutlich stammt er aus Miami oder aus Key West.« »Sie meinen, sie hat ihn aus Florida mitgebracht?«
»Es wäre gut möglich. Aber eines ist sicher. Sie hat eine Menge von gutem Schnaps verstanden. Barbancourt ist etwas ganz Wunderbares.«
»Mir scheint, ich sollte Sie in Zukunft Dr. Connaisseur nennen.«
Es lag kein Staub auf der Flasche Barbancourt, wohl aber auf einigen anderen in nächster Nähe.
»Vielleicht erklärt das, warum sie in die Küche ging«, fuhr ich fort. »Vermutlich kam sie herunter, um den Rum aufzuräumen. Möglicherweise dachte sie auch gerade an einen Schlummertrunk, als jemand an der Tür klingelte.«
»Ja, aber das erklärt nicht, warum sie die Kanone hier auf der Theke liegen ließ, als sie die Tür aufmachte. Sie hatte doch schreckliche Angst, oder? Irgendwie glaube ich immer noch, dass sie jemanden erwartete, dass sie das Schwein gekannt hat. Hey, warten Sie mal! Sie hat doch diesen ausgefallenen Schnaps da mitgebracht. Will sie den etwa ganz allein trinken? Das glaube ich nicht. Ich glaube eher, dass sie sich ab und zu mal ein wenig Unterhaltung gegönnt hat, irgendeinen Kerl mit hierhernahm. Verdammt, vielleicht ist das sogar dieser ›M‹, dem sie von denKeys aus schrieb. Möglicherweise hat sie ihn in der Mordnacht erwartet.«
»Sie spielen mit dem Gedanken, ›M‹ könne der Mörder sein?«, fragte ich.
»Sie nicht?«
Er wurde aggressiver, und langsam ging mir sein Herumgespiele mit der unangezündeten Zigarette auf die Nerven.
»Ich ziehe jede Möglichkeit in Erwägung«, antwortete ich, »zum Beispiel auch die, dass sie niemanden erwartete. Sie war in der Küche, räumte den Rum weg und überlegte vielleicht, ob sie sich einen Drink eingießen sollte. Sie war nervös und hatte ihre Pistole neben sich auf die Theke gelegt. Als es läutete oder jemand klopfte, schreckte sie auf ...«
»Genau!«, unterbrach er mich. »Sie erschrickt, ist aufgeregt. Warum soll sie ihre Kanone hier in der Küche lassen, wenn sie die Tür öffnen geht?«
»Hatte sie denn Übung?«
»Übung?«, fragte er, und unsere Augen trafen sich. »Übung worin?«
»Im Schießen.«
»Keine Ahnung. Wieso?«
»Wenn sie keine hatte, dann war für sie das Mitnehmen der Waffe kein unbewusster Reflex, sondern eine Entscheidung, die sie bewusst treffen musste. Viele Frauen schleppen jahrelang Tränengas in der Handtasche mit sich rum. Wenn sie dann irgendwann einmal angegriffen werden, denken sie erst an das Tränengas, wenn alles vorbei ist. Und warum? Weil sie einfach keinen Verteidigungsreflex haben.«
»Ich weiß nicht ...«
Aber ich wusste es. Ich besaß einen .38er Ruger-Revolver, den ich mit Silvertips, so etwa der gefährlichsten Munition, die man käuflich erwerben kann, geladen hatte. Ich trug ihn nur deshalb ständig mit mir herum, weil ich damit ein paarmal im Monat auf dem Schießstand übte. Wenn ich allein zu Hause war, fühlte ich mich mit der Waffe wohler als ohne. Und da war noch etwas anderes.Ich dachte an das Wohnzimmer, wo die Kaminwerkzeuge ganz gerade in ihrem Messingständer hingen. Obwohl Beryl in diesem Raum mit ihrem Angreifer gekämpft
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