Flucht ins Ungewisse
worauf er mich wieder losließ.
Cass wollte mich stattdessen an den Schultern packen, aber ich wich zurück. Er fand sich schnell damit ab, dass er so nicht weiterkommen würde. „Ich wollte dich vor ihr schützen!“
„Hat ja toll funktioniert“, hörte ich Matt hinter mir.
Cass warf ihm über meine Schulter hinweg einen knappen Blick zu. Es war wie damals im Park, wie er mit einem einzigen, eisigen Blick Greg vertrieben hatte. Dann widmete er sich wieder dem hysterischen, vor einem Anfall stehenden Mädchen. Mir. „Wenn auch nur halb, aber sie is’ dennoch meine Schwester, Lora.“
Darauf konnte ich nichts erwidern. Als mein Dad ins Krankenhaus gekommen war, hatte ich sogar Matt um Hilfe gebeten, den ich damals noch nicht als den hilfsbereiten Menschen bezeichnen konnte, der er eigentlich war. In der Verzweiflung tat man schnell leichtfertige Dinge.
„Es ist nicht richtig, was sie tut“, fuhr er leise fort. Nicht mal annähernd! „Aber du kennst ihre Geschichte nich’, du kennst sie nich’!“
Er hatte recht, ich wusste nichts über sie, außer, dass sie eine durchgeknallte Schläger-Tussi war. Ich wollte sie auch gar nicht besser kennenlernen. Aber sie hat immer noch Simon!
„Ich … Ich kann ihr nicht verzeihen, egal was sie durchgemacht hat oder sonst was.“
„Lora …“
„Nein!“ Ich trat einen Schritt zurück. „Ich muss nachdenken. Und das werde ich nicht bis morgen erledigt haben. Außerdem hab ich noch was anderes zu erledigen. Lass mich in Ruhe!“ Ich machte noch einen Schritt zurück, da streckte Cass erneut eine Hand nach mir aus. Wollte er mich gewaltsam aufhalten?
Plötzlich stand Matt neben mir, legte einen Arm um meine Schultern. Er drehte mich etwas zur Seite und wehrte Cass’ Hand ab.
Matthew Tempson:
„Bloß ein kleiner Nervenzusammenbruch?“
„Ich denke, das reicht!“, mischte ich mich ein. Cass wollte anscheinend nicht nachgeben und Lora war nicht in der Verfassung, sich noch länger mit dem Ganzen hier zu befassen. Sie musste sich ausruhen. Vielleicht konnte ich in der Zwischenzeit ja herausfinden, wie man ihren Freund wieder zurückholen konnte.
Lora stand ganz offensichtlich kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich spürte es. Ihre Schultern zitterten und das Wirrwarr an Gefühlen, das von ihr ausging, war kaum zu ertragen.
Mein Arm ruhte an ihren Schultern, sie lehnte sich leicht an mich. Allem Anschein nach konnte sie mittlerweile viel besser damit umgehen, wenn wir uns berührten – sogar jetzt, wo wir beide müde und kraftlos waren. Sie verspannte sich nicht mehr, wenn ich ihre Hand nahm, sondern wurde ruhiger. Was auch jetzt der Fall war. Das Zittern verebbte und ihr Atem wurde wieder regelmäßig. Gut, dass mittlerweile unsre Verbindung wenigstens zu etwas gut ist.
„Lora“, sagte ich leise, um sie in ihren wirren Gefühlen nicht zusätzlich aufzuschrecken. Sie wandte ihren Kopf, um mich anzusehen. Ihre Augen glänzten feucht. „Wir sollten von hier verschwinden.“
„Seh ich auch so“, stimmte Nick zu. „Und ich würd sagen, ihr macht euch auf den Weg zum Waggon, während ich meine Schuld einer Erklärung begleiche.“
Ich wusste, dass er damit nur Jess meinen konnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte sie mehr als nur dieses eine Mal angerufen. Sie wusste, wie man Telefonterror betrieb!
Ich nickte ihm zu, worauf er mir meine Jacke (die er anscheinend aufbewahrt hatte) zuwarf, sich dann umdrehte und davonsprintete. Nick musste davon überzeugt sein, dass ich hier alles im Griff hatte. Könnte ich nur dasselbe von mir behaupten.
Lora warf Cass, der sich nicht vom Fleck rührte, noch einen Blick zu, bevor auch sie kaum merklich nickte. Sie machte keine Anstalten, sich aus meinem Arm zu winden, wartete still.
„Ich weiß auch noch nich’ so ganz, was ich von dir und deiner Einstellung halten soll“, wandte ich mich an Cass. „Am besten, du sorgst stillschweigend dafür, dass ihr Freund wieder freikommt.“
Er hob seinen Kopf. Aber nur ein kleines Stück weit. „Er is’ noch nich’ frei?“
„Siehst du ihn hier irgendwo?“ Ich hörte und spürte, wie Loras Herzschlag schneller wurde, ihre Unruhe aber zeigte sie nicht.
Cass kratzte sich im Nacken, ließ ihn in einer langsamen Bewegung einmal knacken, bevor er seine Augen schloss.
Nach einigen stillen Minuten, in denen ich voll und ganz auf Lora in meinem Arm konzentriert war, öffnete Cass die Augen wieder. Sah zuerst mich, dann Lora an. „Er is’ aber nich’ mehr
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