Flucht ins Ungewisse
fuhr sie leise fort, drückte dabei meine Hände. „Mein Dad liegt im Koma, diese Hexe meinte, mit mir sei irgendwas nich’ normal. Ich hab nicht den geringsten Schimmer, wo Simon ist und …“ Sie schniefte, verzog ihr Gesicht. „… und meine Wange brennt wie Hölle!“ Kein Wunder! Bei dem Salzwasser, das du darüber schüttest …
Wohlüberlegt wand ich eine Hand aus ihrem Griff und strich mit den Fingern über ihre zerschundene Wange, um ihr womöglich etwas von dem Schmerz zu nehmen. Sie zuckte leicht, als ich die Wunde berührte, wehrte sich aber nicht dagegen.
Der mittlerweile strömende Regen prasselte auf uns herab, durchnässte uns bis auf die Knochen und Loras Erscheinung schien sich weiter aufzulösen.
„Wenn wir länger hierbleiben …“
„Ich weiß“, stimmte sie leise zu.
„Ich könnte auch mein Bike holen und dich dann …“
„Nein, gib mir noch ein paar Sekunden.“ Sie strich mit ihrer Hand meine Schläfe entlang, was eine kribbelnde Linie auf meiner Haut hinterließ. „Du musst dich viel mieser fühlen als ich. Deine Augen, sie schimmern wieder.“
Ich wandte den Kopf schnell zur Seite und schloss die Augen. Aber eigentlich wundert es mich nich’… Wenn ich (nach meiner Entzugszeit) innerhalb von zwei Tagen auf Amanda treffe und mich dann durch diese Halbaffen schlagen muss, schafft mich das eben. Es ist erstaunlich, dass ich überhaupt noch klar denken kann.
In meiner Brust schnürte sich alles zusammen. Wie gern würd ich mir jetzt eine ganze Packung Zigaretten reinziehn. Ich hätte nie damit aufhören sollen! Aber mit meinen Sinnen würde ich wahrscheinlich schon nach dem ersten Zug draufgehn …
„Nicht!“ Loras Fingerspitzen streiften meine Wange, was stark an meiner Selbstbeherrschung kratzte. Ich schlug die Augen wieder auf und sah nach knappem Zögern Lora an. „Es beweist mir, dass zumindest du real bist und mich nicht belügst.“
Ein Schauer lief durch ihren Körper. Vor Kälte?
„Lora, wir sollten wirklich …“
Sie nickte, rührte sich aber nicht weiter, starrte mir bloß unentwegt in die Augen, beugte sich dabei ein kleines Stück vor. Sie war mir nahe. Zu nahe.
„Was … hast du …“
„Vor?“, vervollständigte sie den Satz flüsternd. „Ich …“ Das Kribbeln an meiner Hand, welche sie immer noch festhielt, versetzte mich in einen anderen Zustand, in eine eigene Welt. Eine Welt, in der es nur sie und mich gab.
Sie kam noch ein Stück näher. Bis ich ihren zittrigen, warmen Atem bereits an meinen Lippen spüren konnte. Er strich über meine Haut wie ein lauer Frühlingswind. Ich neigte meinen Kopf etwas zur Seite und …
„Lora?“, rief jemand, was uns ruckartig auseinanderfahren ließ.
Lorianna Ambers:
„Ist es endlich vorbei? Oder fängt es doch erst an?“
„Lora?“, riss mich eine Stimme in die Realität zurück. Mein Kopf schlug gegen die Wand hinter mir.
Ich brauchte keine drei Synapsen in meinem Hirn abzuwarten, da wusste ich bereits, wer mich gerade gerufen hatte.
„Simon“, flüsterte ich und drückte Matts Hand etwas fester. Ohne ihn anzusehen, wand ich mich schließlich an ihm vorbei und rannte. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen. Vielleicht war er ja genauso überrascht und überfordert wie ich. Immerhin waren wir beide geschwächt, völlig fertig. Da machte man schon mal den einen oder anderen hirnverbrannten Schwachsinn. Nicht wahr?
Mein Blut hämmerte wie ein Asphaltschredder durch meine Venen und meinen Kopf. Was wollte ich da gerade tun? War ich denn völlig irre geworden?
Mein Fuß stieß schleifend gegen etwas Hartes am Boden, weshalb ich ins Straucheln kam. Stolpernd konnte ich mich fangen und weiterlaufen.
Es ist nicht real! rief ich mir ins Gedächtnis, rannte schneller. Es fühlte sich an, als würden meine Füße den Boden kaum mehr berühren. Flog ich? Das sind keine richtigen Gefühle. Weder seine noch meine! Ich hab gesehen, was Amandas Berührung bei ihm ausgelöst hat … Es ist das Blut! Nur das Blut! Davon kann ich mich doch nicht beeinflussen lassen. So blöd bin ich nicht!
Ich lief auf das Ende der Gasse zu, wo mir die ersten Straßenlaternen wieder entgegenleuchteten. Eine dunkle Gestalt stand inmitten des Lichts. Auch ohne dass ich ihn erkennen konnte, war mir völlig klar, wer dort stand. Schon von Weitem blitzten mir die blau-silbernen Haare entgegen. Es sah aus, als wäre ein Engel gekommen, um mich aus dieser Situation herauszuholen.
Aufgrund des Lichts kniff ich die Augen fest
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