Flucht übers Watt
Zähne zu sehen sind, die ihm zusammen mit dem dünnen hellen Bart etwas Rattenhaftes verleihen.
»Entspann dich«, sagt Zoe und streicht ihm das Haar aus der Stirn.
Wahrscheinlich hat sie recht. Ihm kommen alle möglichen Leute bekannt vor. Das ist ein Tick von ihm. Harry hat lange gezögert, nach Deutschland und gerade auch auf die Nordseeinseln zurückzukehren. Die Geschichte mit den Nolde-Bildern ist verjährt. Das hatte ein befreundeter Anwalt für ihn in Erfahrung gebracht. Aber dann sind da ja noch diese Todesfälle. Harry geht davon aus, dass die Behörden nach so langer Zeit nicht mehr ermitteln. Er hat nicht die leiseste Ahnung, wie weit er damals überhaupt mit den Leichenfunden in Verbindung gebracht worden war. Der Coup im Nolde-Museum war ja alles andere als glatt gelaufen.
Unglaublich jung war er damals gewesen, gerade mal fünfundzwanzig und restlos desillusioniert. Während sein Mitstudent Albrecht Ahlen aus der Malerei-Klasse von Herburger mit riesigen, wilden, surrealen Bildern schon erstaunliche Preise erzielte, war Harry, der ganz ähnlich malte, wenn auch in kleineren Formaten, am Kunstmarkt bis dahin kläglich gescheitert. Dabei war sein Stil damals eigentlich Mode. Und Harry Oldenburg, das klang doch irgendwie nach amerikanischer Pop-Art. In der Kunsthochschule hatte er streng daraufgeachtet, dass sie ihn nicht Harald, sondern |13| Harry nannten, damals noch deutsch ausgesprochen, nicht englisch, wie Zoe es macht. Harald ist kein Name für einen Künstler und für einen Kunstdieb erst recht nicht. Aber inzwischen hat er es durch die Kunst tatsächlich zu einigem Wohlstand gebracht. Wenn auch anders als gedacht. Seine nicht gerade bürgerliche Karriere hat ihm ein durchaus bürgerliches Leben beschert.
Als er jetzt zusammen mit Zoe auf dem Sonnendeck über die wie Silberlametta flirrende See gleitet, fühlt er sich jünger als damals. Sein immer noch volles Haar hat zwar inzwischen einige graue Strähnen bekommen, aber das steht ihm besser als das schmutzige Dunkelblond, das er als Mittzwanziger hatte. Eine längere Tolle, auf der Zoe besteht, fällt ihm immer wieder ins Gesicht, beim Tennis oder beim Hantieren mit den großformatigen Bildern in der kleinen Galerie, die sie mittlerweile in einem kleinen Nest in der Nähe von Annapolis an der Ostküste betreiben. Die große fleischige Nase, die er früher immer als Makel empfunden hat, ist inzwischen sein Markenzeichen. Und auch mit den verbliebenen Aknenarben hat er sich arrangiert.
Harry hat sich das Rauchen abgewöhnt und außerdem das Stottern, zumindest, wenn er Englisch spricht. Zoe tut ihm gut. Ihre amerikanische Art. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, in dem Kunsthandel ihres Vaters, war sie ein flippiges achtzehnjähriges New Yorker Mädchen aus dem East Village. Sie trug ein schwarzes Unterhemd, hatte schwarz geschminkte Augen und zottelige lange Haare. Er hatte sich sofort in sie verliebt.
|14| Inzwischen sieht Zoe wie eine richtige Ostküstenamerikanerin aus mit ihren sportlich kurzen Haaren, den wachen graugrünen Augen und den etwas zu großen, ein wenig nach vorn stehenden Schneidezähnen. Harry mag es, dass sie beim Lachen ungeniert ihre Zähne zeigt, selbst beim Kaugummikauen. Ihr metallisch riechendes Parfüm mischt sich dann mit dem Minze-Aroma des Kaugummis. Wenn sie an der Bay zusammen in ihrem alten Volvo-Kombi zu dem Lokal auf dem Bootssteg fahren und Krebse mit Gabel und Hammer essen und Bier in Glaskaraffen dazu trinken, kommt er sich wie ein echter Amerikaner vor. Deutschland, seine missglückte Kindheit und Jugend sind dann in weite Ferne gerückt.
Heute Vormittag aber war Harry das erste Mal seit langer Zeit wieder ein bisschen ins Stottern geraten. Das deutsche Wort »Feriengäste« hatte er nicht gleich herausgebracht: »Fe-feriengäste.«
Aber es war für Harry auch eine böse Überraschung gewesen, die ihn heute Mittag im Nolde-Museum erwartete. Bevor sie in ihrem Golf, den sie am Hamburger Flughafen gemietet hatten, zur Fähre nach Dagebüll fuhren, wollte er Zoe unbedingt das kleine Museum in Seebüll zeigen, vor allem Noldes ›Ungemalte Bilder‹. In seiner Zeit an der Kunsthochschule waren Nolde, Schmidt-Rottluff und die anderen »Brücke«-Maler gerade wieder entdeckt worden von den »Neuen Wilden«, zu denen auch Harry gern gehört hätte. Dabei war ihm Nolde schon vorher vertraut. Seine Großmutter, bei der er aufgewachsen war, hatte in einem Schuhkarton lauter Kunstpostkarten gesammelt, |15|
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