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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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guckte Harry durch ihre Brillengläser verblüfft an.
    Dass er gerade mehrere Noldes klaute, schien sie noch gar nicht mitbekommen zu haben, obwohl er das Passepartout in der einen und einen Bilderrahmen in der anderen Hand hielt. Weit schlimmer war für sie, dass sich jemand außerhalb der Öffnungszeiten im Museum aufhielt.
    »Dat darf doch wohl nicht wahr sein«, brach es aus ihr heraus. »Ich hab hier grad alles sauber!«
    Sonderlich verängstigt wirkte sie dabei nicht. Statt der blauen Kittelschürze trug sie jetzt einen weiten Lurex-Pullover mit einem in Schwarz, Violett und Beige gehaltenen und von Silberfäden durchzogenen Gräsermotiv auf der Vorderseite.
    Harry war einen Moment wie gelähmt. Am liebsten hätte er sich ergeben und der Putzfrau das ›Meer im Abendlicht‹ einfach ausgehändigt.
    »B-b-b-b   ... Bleiben sie ganz ruhig«, wollte er nur sagen. Aber er brachte keinen weiteren Ton heraus. Stattdessen musste er nach dem Schaschlik aus Husum aufstoßen.
    In dem grellen Neonlicht der Deckenbeleuchtung bemerkte er, wie unglaublich fein gekrisselt die Dauerwelle |31| der Frau war und dass die Haare nicht rot waren, sondern ins Violette spielten, passend zu den Gräsern auf ihrem Pullover.
    »War’n Sie nicht neulich schon mal hier?«, erkannte die Frau doofglotzend, aber voller Stolz.
    Langsam kam wieder Leben in Harry. Und er wurde wütend auf die dämliche Putzfrau mit diesem unglaublichen Gräserpullover und der verbotenen Frisur. Warum musste die dumme Kuh hier unbedingt noch mal aufkreuzen? Und überhaupt: Wie konnte sich jemand seine Haare so zurichten lassen?
    Harry Oldenburg überlegte nicht lange. Es gab aus dieser Situation nur einen Ausweg. Er schnappte sich die Neckermann-Tüte und verstaute auch das letzte Bild, das er aus dem Rahmen getrennt hatte, darin. Dann wollte er an der Putzfrau vorbei, die immer noch provozierend gelassen im Durchgang stand, die schmale Holztreppe hinunter aus dem Museum stürmen. Dabei stieß er Frau Quarg, die den Weg einfach nicht freigeben wollte, leider um. Irgendwie ließ sich das nicht vermeiden. Die nordfriesische Putzkraft purzelte vor ihm die Treppe hinunter, polterte mit aller Wucht gegen die Kasse, sodass der darauf stehende Ständer mit Postkarten ins Kippen kam und ein Schwung Karten des Nolde-Bildes ›Vor Sonnenaufgang‹ von 1901 auf ihren plötzlich leblos wirkenden Körper mit dem silbrigen Gräserpullover herunterfiel.
    Die Brille mit den dicken Gläsern war ihr von der Nase gerutscht. Ein Bügel hing verbogen in den filzigen Haaren. Eine Blutspur auf dem grünen Teppichläufer unter ihrem Hinterkopf ergab einen farblich |32| unschönen Kontrast zu dem violetten Rot der Dauerwelle. Frau Quarg guckte nicht einmal mehr dämlich. Sie hatte beide Augen geschlossen und blieb stumm. Harry hetzte mit seiner Plastiktüte die Treppe zum Ausgang hinunter. Kurz bevor er die Tür des Nolde-Hauses hinter sich schloss, glaubte er noch ein deutliches »Oah« gehört zu haben, ein Stöhnen, das sich halb wie ein Gähnen anhörte und irgendwie friesisch klang. In dem Moment wusste er nicht recht, ob ihn dieses »Oah« beruhigen oder beunruhigen sollte. Auf keinen Fall konnte er sich jetzt um die Putzfrau kümmern. Er musste sich und vor allem die ›Feriengäste‹ aus der Gefahrenzone bringen.
     
    Harry rannte in die stürmische Nacht hinaus. Die Auffahrt zum Nolde-Museum war durch das Mondlicht hell erleuchtet und durch schnell aufziehende Wolken augenblicklich wieder verdunkelt. Während dieser dramatischen Lichtwechsel eilte er die kleine Allee entlang und blieb immer wieder stehen. Er trug immer noch die weißen Handschuhe, die hier draußen besonders auffielen. Während er sie auszog, überlegte er fieberhaft, ob es so schlau wäre, wie geplant zum Auto zurückzugehen. Falls Putzfrau Quarg wieder zu sich kommen und Hilfe holen sollte, würden über kurz oder lang die Polizei oder ein Unfallwagen anrücken. Mit seinem Auto wäre Harry in dieser einsamen weiten flachen Landschaft sofort auszumachen. Sollte er den Wagen nicht einfach stehen lassen? Der braunmetallicfarbene Kadett war nichts mehr wert und, soweit er wusste, auch nirgends registriert. An dem Schuppen |33| beim Garten des Nolde-Hauses glaubte er ein Fahrrad gesehen zu haben.
    Er lief zurück, packte das Rad, das glücklicherweise nicht angeschlossen war, und schob es erst mal ein Stück. Als er in die Allee einbog und sich auf das Rad schwang, sah er hinter sich im Mondlicht den Hausmeister

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