Flug 2039
besteht, die Wahrheit zu verbergen. Ihr besitzt die Gottesgabe, furchtbare Sünden zu begehen. Ihr seid die geborenen Lügner. Das ist ein Segen.
Falls man das so nennen kann.
Ich putze den ganzen Abend, fühle mich aber immer noch schmutzig.
Fertility hat mir gesagt, dass die Prozedur bis Mitternacht erledigt sei. Die beiden würden sie mit auf Kissen hochgestützten Füßen im grünen Schlafzimmer zurücklassen. Sobald das Paar im eigenen Zimmer eingeschlafen sei, könne ich mich dann gefahrlos nach oben schleichen.
Die Uhr an der Mikrowelle zeigt elf Uhr dreißig an.
Ich riskiere es. Der Weg zu Fertilitys Bett ist von welken Topfblumen und angelaufenen Türklinken gesäumt, von Fliegenschiss und verschmierten Fingerabdrücken. Die Möbel sind mit Glasrändern und Zigarettenflecken übersät. In allen Winkeln hängen Spinnweben.
Im grünen Schlafzimmer ist es dunkel, und Fertility fragt mich aus dem Schatten heraus: »Sollten wir jetzt nicht Sex miteinander haben?«
Ich sage: Ich glaub schon.
»Ich hoffe, es stört dich nicht, erst als Zweiter dranzukommen«, sagt sie.
Stört mich nicht. Nehme mal an, Adam hätte es so gewollt.
»Hast du Gummis dabei?«, sagt sie.
Ich sage ihr, ich dächte, sie sei unfruchtbar.
»Ja sicher, das bin ich auch«, sagt sie. »Aber ich hatte mit Millionen von Leuten ungeschützten Sex. Wer weiß, ob ich nicht irgendeine schreckliche tödliche Krankheit habe.«
Ich sage, das wäre nur dann ein Problem, wenn ich noch sehr viel länger leben wollte.
»Genauso geht es mir, wenn ich an meine wahnsinnig überzogene Kreditkarte denke«, sagt Fertility.
Also haben wir Sex miteinander.
Falls man das so nennen kann.
Nachdem ich mein ganzes Leben darauf gewartet habe, dringe ich kaum einen Zentimeter in sie ein, und schon ist alles vorbei.
»Nun«, sagt Fertility und schiebt mich weg, »ich hoffe, jetzt hast du endlich mal das Gefühl von Macht empfunden.«
Sie gewährt mir keinen zweiten Versuch, Liebe zu machen.
Falls man das so nennen kann.
Noch lange nachdem sie eingeschlafen ist, betrachte ich sie und frage mich, was sie wohl träumen mag, ob sie wieder von irgendeinem schrecklichen Mord oder Selbstmord oder Unglück träumt. Und ob sie womöglich von mir träumt.
Kapitel 4
Am nächsten Morgen flüstert Fertility mit irgendwem am Telefon. Ich wache auf, und sie steht angezogen neben dem Bett und fragt: »Geht um acht Uhr ein Flug nach Sydney?«
»Nur Hinflug, bitte«, sagt sie. »Fensterplatz, falls das möglich ist. Akzeptieren Sie Visa?«
Als sie merkt, dass ich sie beobachte, hat sie längst aufgelegt und zieht sich die Schuhe an. Dann nimmt sie ihren Terminkalender und will ihn in die Reisetasche stecken, legt ihn aber wieder auf die Kommode zurück.
Ich frage, wo sie hinwill.
»Nach Sydney.«
Aber warum?
»Einfach so.«
Ich sage: Erklär’s mir.
Sie schleppt die Reisetasche zur Tür.
»Weil ich jetzt meine Überraschung habe«, sagt sie. »Ich habe jetzt endlich die verdammte Überraschung, die ich immer haben wollte. Aber verdammt, ich will das nicht. Nein, ich will das nicht!«
Was denn?
»Ich bin schwanger.«
Aber woher weiß sie das?
»Ich weiß alles!«, schreit sie mich an. »Das heißt, ich habe immer alles gewusst. Aber das nicht. Ich wusste nicht, dass ich in diese elende, langweilige, schreckliche Welt ein Kind setzen würde. Ein Kind, das meine Gabe, in die Zukunft zu sehen, erben wird, ein Kind, das ein von Langeweile erdrücktes Leben führen wird. Ein Kind, das niemals etwas Überraschendes erleben wird. Das habe ich nicht kommen sehen.«
Und was jetzt?
»Ich fahre nach Australien, nach Sydney.«
Aber warum?
»Meine Mutter hat sich umgebracht. Mein Bruder hat sich umgebracht. Da kannst du jetzt zwei und zwei zusammenzählen.«
Aber warum Australien?
Sie ist schon durch die Tür und schleift die Tasche zur Treppe. Ich würde ihr ja nachlaufen, aber ich habe nichts an.
»Stell dir das als eine sehr radikale Form von Abtreibung vor«, schreit sie.
Ein Mann tritt aus dem Schlafzimmer nebenan. Er trägt einen blauen Anzug, den ich tausendmal gebügelt habe. Mit einer Stimme, die ich von tausend Gesprächen am Freisprechtelefon her kenne, fragt er mich: »Sind Sie Dr. Ambrose?«
Als ich endlich in meine Kleider gesprungen bin, ist Fertility schon unten und raus aus dem Haus. Ich stehe am Fenster und sehe, wie sie über den Rasen zu einem Taxi geht.
Auf dem Flur tritt eine Frau neben den Mann im blauen Anzug; sie trägt eine
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