Top Secret 1 - Der Agent (German Edition)
1.
James Choke hasste Naturkunde.
In der Grundschule hatte er sich immer vorgestellt, dass es im ganzen Raum Teströhrchen, Gasflammen und Funken geben müsse. Stattdessen hockte er eine Stunde lang auf seinem Stuhl und sah zu, wie Miss Voolt die Tafel voll schrieb. Und obwohl der Kopierer bereits vor vierzig Jahren erfunden worden war, musste man alles abschreiben.
Es war die vorletzte Stunde, draußen regnete es, und es begann, dunkel zu werden. James war müde, denn im Labor war es heiß und außerdem hatte er bis spät in die Nacht »Grand Theft Auto« gespielt.
Neben ihm saß Samantha Jennings. Die Lehrer liebten sie: Sie meldete sich ständig freiwillig, trug eine adrette Uniform und hatte lackierte Fingernägel. Sie malte ihre Diagramme in drei verschiedenen Farben und schlug ihre Lehrbücher in Geschenkpapier ein, damit sie besonders schön aussahen. Doch wenn die Lehrer nicht hinsahen, zeigte Samantha ein anderes Gesicht. James hasste sie. Ständig hänselte sie ihn, weil seine Mutter so dick war.
»James’ Mutter ist so fett, dass er die Badewanne schmieren muss, damit sie nicht drin stecken bleibt.«
Samanthas Freundinnen lachten, wie immer.
James’ Mutter war riesig. Sie musste ihre Kleider aus einem Spezialkatalog für Dicke bestellen. Mit ihr gesehen zu werden, war ein Albtraum. Die Leute starrten sie an und zeigten mit dem Finger auf sie. Kleine Kinder ahmten ihren Gang nach. James liebte seine Mutter zwar, aber er versuchte trotzdem, Ausreden zu finden, wenn sie mit ihm irgendwohin gehen wollte.
»Gestern bin ich zehn Kilometer gejoggt«, sagte Samantha. »Zwei Runden um James’ Mutter.«
James sah von seinem Übungsbuch auf.
»Sehr witzig, Samantha. Fast noch witziger als die ersten drei Mal, die du’s erzählt hast.«
James war einer der härtesten Jungs der siebten Klasse. Jeder Junge, der seine Mutter beleidigte, hätte eine Ohrfeige bekommen. Aber was machte man bei einem Mädchen? In der nächsten Stunde würde er sich möglichst weit weg von Samantha setzen.
»Deine Mutter ist so fett...«
James hatte es satt. Er sprang auf, sein Stuhl kippte nach hinten.
»Was soll das, Samantha?«, schrie er.
Im Labor wurde es still. Alle Augen richteten sich auf sie.
»Was hast du denn, James?«, lächelte Samantha. »Verstehst du keinen Spaß?«
»James Choke, heb deinen Stuhl auf und arbeite weiter«, rief Miss Voolt.
»Noch ein Wort, Samantha, und ich...«
James war noch nie sehr schlagfertig gewesen.
»Ich werde verdammt...«
Samantha kicherte. »Was wirst du tun, James? Heimgehen und mit der dicken, fetten Mama kuscheln?«
James konnte das dämliche Grinsen in Samanthas Gesicht nicht länger ertragen. Er zog sie vom Stuhl hoch, schlug sie gegen die Wand und drehte sie dann zu sich um. Geschockt hielt er inne. Blut lief ihr übers Gesicht. In ihrer Wange klaffte ein langer Schnitt von einem Nagel, der aus der Wand ragte.
James fuhr zurück. Er bekam Angst. Samantha hielt die Hände über die Wunde und schrie wie verrückt.
»James Choke, du bekommst großen Ärger!«, schrie Miss Voolt.
Alle aus James’ Klasse kreischten wild durcheinander. James konnte nicht fassen, was er getan hatte. Keiner würde glauben, dass es ein Unfall war. Er lief zur Tür.
Miss Voolt griff ihn am Blazer.
»Wo willst du hin?«
»Lassen Sie mich!«, schrie James.
Er versetzte Miss Voolt einen Stoß, sodass sie rückwärts hinfiel und mit den Armen und Beinen in der Luft zappelte wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt.
James knallte die Klassentür hinter sich zu und rannte den Gang entlang. Das Schultor war verschlossen, doch er entkam über die Schranke am Lehrerparkplatz.
Fluchend stürmte James von der Schule weg, während seine Wut langsam ab- und seine Angst zunahm, als er sich klar machte, dass er in den größten Schwierigkeiten seines Lebens steckte.
In einigen Wochen würde er zwölf werden. Er fragte sich, ob er noch so lange leben würde. Seine Mutter würde ihn umbringen. Mit Sicherheit würde er einen Verweis bekommen; wahrscheinlich war es sogar schlimm genug, um von der Schule zu fliegen.
Als James den kleinen Spielplatz in der Nähe seiner Wohnung erreichte, war ihm schlecht. Er sah auf die Uhr. Wenn er um diese Zeit nach Hause kam, wusste seine Mutter sofort, dass etwas passiert war, aber für einen Becher Tee an der Imbissbude fehlte ihm das Geld. So konnte er nur auf den Spielplatz gehen und sich in der Betonröhre vor dem Nieselregen verkriechen.
Der Tunnel erschien
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