Flug 2039
klingelt schon wieder. Die Panade des Kalbsschnitzels ist viel zu dünn, das kriege ich nie mehr richtig hin, und am Telefon ist ein neues Mädchen. Sie weint. Als Erstes frage ich sie, ob sie mir vertrauen will. Ich frage sie, ob sie mir alles erzählen will.
Mein Goldfisch und ich, wir beide schwimmen jetzt im selben Glas.
Das Schnitzel sieht aus, als hätte ich es aus einem Katzenklo gebuddelt.
Um das Mädchen zu beruhigen, um sie zum Zuhören zu bringen, erzähle ich ihr von meinem Fisch. Es ist der Fisch Nummer 641 in meiner Karriere als Goldfischbesitzer. Den ersten bekam ich von meinen Eltern geschenkt, damit ich lernen konnte, mich mit liebevoller Fürsorge um ein lebendiges Geschöpf Gottes zu kümmern. Sechshundertundvierzig Fische später weiß ich nur eines: Alles, was man liebt, stirbt. Wenn man einen besonderen Menschen kennen lernt, kann man sich darauf verlassen, dass er eines Tages tot und begraben sein wird.
Kapitel 45
Am Abend vor dem Tag, an dem ich von zu Hause wegging, erzählte mir mein großer Bruder alles, was er von der Welt da draußen wusste.
Da draußen hätten Frauen die Fähigkeit, die Farbe ihres Haars zu ändern. Und die ihrer Augen. Und die ihrer Lippen.
Wir saßen auf der Veranda, das einzige Licht kam aus dem Küchenfenster. Mein Bruder Adam schnitt mir die Haare, und zwar genau so, wie er Weizen schnitt: Er packte jeweils eine Hand voll und säbelte es etwa in der Mitte mit einem Rasiermesser ab. Gelegentlich nahm er mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und zwang mich, ihm geradewegs ins Gesicht zu sehen, während er seine braunen Augen zwischen meinen Koteletten hin und her huschen ließ.
Bis meine Koteletten gleich lang waren, schnippelte er links und rechts und rechts und links so lange herum, bis schließlich auf beiden Seiten nichts mehr übrig war. Meine sieben jüngeren Brüder hockten am Rand der Veranda und suchten die Dunkelheit nach all dem Bösen ab, das Adam schilderte.
Da draußen, sagte er, halten die Menschen Vögel in ihren Häusern. Das habe er selbst gesehen.
Adam hatte den Bezirk unserer Kirchenkolonie nur ein einziges Mal verlassen, damals, als er und seine Frau ihre Ehe eintragen und amtlich besiegeln lassen mussten.
Da draußen, sagte er, werden die Menschen in ihren Häusern von Geistern besucht, die bei ihnen Fernsehen heißen.
Geister sprechen zu den Menschen durch Kästen, die sie Radio nennen.
Die Menschen benutzen Geräte, die sie Telefon nennen, weil sie zwar nicht gern zusammen sind, andererseits aber zu viel Angst haben, allein zu sein.
Unterdessen schnitt er mir weiter die Haare, aber nicht, um mich zu verschönern: Er stutzte sie einfach, etwa so, wie er einen Pflaumenbaum gestutzt haben würde. Auf den Verandabrettern häuften sich um uns die Haare, weit weniger wie geschnitten als eher geerntet.
Bei uns in der Kirchenkolonie hängten wir Säcke mit abgeschnittenen Haaren in die Obstgärten, um das Wild abzuschrecken. Adam erklärte mir, die Regel, nie etwas wegzuwerfen, sei eine der Errungenschaften, auf die ich verzichten müsse, sobald ich die Kolonie verlasse. Die Wohltat, auf die am schwersten zu verzichten sei, sie aber die Stille.
Da draußen, erklärte er mir, gibt es keine echte Stille. Nicht die vorgetäuschte Stille, die man erlebt, wenn man sich die Ohren verstopft, um nur noch den eigenen Herzschlag zu hören, sondern die echte Stille der freien Natur.
Als er und Biddy Gleason heirateten, fuhren sie in Begleitung eines Kirchenältesten mit dem Bus hinaus aus der Kolonie. Während der ganzen Fahrt war es im Bus sehr laut. Die Autos neben ihnen auf der Straße lärmten. Die Menschen in der Welt da draußen sagten mit jedem Atemzug etwas Dummes, und wenn sie nichts sagten, füllten ihre Radios die Lücke mit den reproduzierten Stimmen von Leuten, die immer wieder die gleichen Lieder sangen.
Adam sagte, die nächste Wohltat, auf die man da draußen verzichten müsse, sei die Dunkelheit. Man kann zwar die Augen schließen und sich in einen Schrank setzen, aber das sei nicht dasselbe. Die nächtliche Dunkelheit bei uns in der Kolonie ist vollkommen. In solcher Dunkelheit sind über uns dicht an dicht die Sterne zu sehen. Man erkennt die raue Oberfläche des Mondes, die Gebirge und Flussläufe und Ozeane.
In einer Nacht ohne Mond und Sterne kannst du gar nichts sehen, aber du kannst dir alles vorstellen, was du willst.
So jedenfalls habe ich seine Worte in Erinnerung.
Meine Mutter bügelte und faltete unterdessen
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