Flugasche
ausgebreiteten Flügeln glitt sie abwärts, dann aufwärts. Zwischen ihren Flügeln war etwas Weißes. Als der Vogel näherkam, erkannte Josefa die Puppe. Die Puppe trug ein weißes Spitzenkleid, und ihre Plastikfinger waren zierlich gespreizt. Ein weißer Schleier verhüllte ihr Gesicht. Flieg die Braut, schwarzer Vogel. Aus den Trichtern der Gießkanne schallen die himmlischen Trompeten. Die letzten Töne werden mit dem Wasser ausgegossen. Wirf die Braut nicht ab, schwarzer Vogel. Sieh doch, wie ihr Schleier unter der lückenhaften Myrte sehnsüchtig im Wind weht und wie die steifen Finger schon beginnen, sich zu rühren. Bring die Braut zum Bräutigam, damit sie sich vermählen. Sie schlägt ihre klappernden Schlafaugen auf, und ihr Mund bläst den Schleier vom Gesicht. Wo hat sie diese Augen her und diesen Mund. Die gehören mir. Du gieriges schwarzes Miststück, reiß deinen gelben Schnabel nicht auf, diese Braut bekommt dir nicht. Die hat Gift in den Adern und glühende Kohlen in der Brust. Bring sie zu ihrem Bräutigam, damit er stirbt an ihrem Gift und eingeäschert wird in ihrer Glut. Flieg schneller, schwarzer Leichenvogel, flieg mit dem Wind um die Wette. Paß auf, sie bewegt die Beine, gleich die Arme. Was da knarrt, ist ihr künstlicher Kopf unter dem künstlichen Haar. Sie bewegt ihn. Wenn sie lebendig ist, hast du verloren. Sie nimmt ihren Schleier vom Kopf und hält ihn in den Wind. Der Wind reißt ihr den Schleier aus der Hand. Jetzt will sie absteigen. Flieg schneller, Vogel. Sie springt. Hack nicht nach ihr, sonst stürzt sie ab. Sie breitet ihre steifen Arme aus, als wollte sie schwimmen, sie legt sich in den Wind und fliegt. Hol sie zurück. Sie will hoch in den Eishimmel, wo das Gift ihr in den Adern friert und die Glut in ihrer Brust verschwelt.
Der Vogel umkreiste die Linde vor dem Fenster, ließ sich auf einen äußeren Ast fallen und putzte seine Federn. Auf dem Rücken zwischen den Flügeln leuchtet ein weißer Fleck. Josefa hatte noch nie eine Drossel mit einem weißen Fleck auf dem Rücken gesehen. Vielleicht war sie über eine Baustelle geflogen, und die Lehrlinge hatten einen Farbpinsel nach ihr geworfen. Der Wecker stand breitbeinig auf dem Teppich und tickte Zeit. In einer halben Stunde würde er klingeln. In einer halben Stunde würde Strutzer den großen Versammlungsraum aufschließen und die Wartenden hineinlassen. Noch könnte sie aufstehn, sich anziehn, mit einem Taxi würde sie es noch schaffen. Josefa griff zum Telefon, wählte hastig. – Herrn Grellmann, bitte.
Der Kollege Grellmann ist zu Tisch, in einer halben Stunde vielleicht.
Josefa wählte noch einmal.
Luise? Hier ist Josefa.
Ich ruf zurück, sagte Luise.
Wahrscheinlich waren gerade Strutzer oder Rudi Goldammer bei ihr, falls Rudi kein Zahnweh hatte. Es war anzunehmen, daß Rudi heute Zahnweh hatte.
Josefa ließ ein Bein unter der Decke hervor, ließ es seitlich aus dem Bett hängen. Das Bein stellte sich auf den Teppich. Dann ließ Josefa den Arm aus dem Bett. Er schaukelte gelangweilt über den Fußboden. In zehn Minuten steh ich auf, dachte sie, in zehn Minuten hilft auch kein Taxi mehr. Sie rannte in die Küche, setzte Wasser auf, rannte zurück ins Bett, überlegte, ob sie Tee trinken wollte oder Kaffee. Sie entschied sich für Tee.
Als sie endgültig aufstehn wollte, rief Luise an. Ob was los sei, fragte sie, oder ob Josefa noch mal nachgedacht hätte.
Ist schon gut, sagte Josefa, es bleibt dabei. Sag ihnen, daß ich nicht komme, daß ich überhaupt nicht mehr komme.
Die Drossel auf der Linde putzte noch immer ihre Federn, und es schien Josefa, als sei der weiße Fleck zwischen ihren Flügeln kleiner geworden.
V.
Am gleichen Tag, an dem die Genossen der Illustrierten Woche zu der Auffassung gelangten, es sei zu prüfen, ob die Genossin Nadler würdig sei, weiterhin Mitglied ihrer, in Idee und Disziplin sie einigenden Partei zu sein, beschloß der Höchste Rat in einer nachmittäglichen Beratung, das alte Kraftwerk in B. unter Berücksichtigung der Gesundheit der Bürger von B. und unter Nichtberücksichtigung kurzfristiger volkswirtschaftlicher Vorteile stillzulegen.
Über Monika Maron
Monika Maron ist 1941 in Berlin geboren, wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik und lebt heute wieder in Berlin. Sie veröffentlichte u. a. die Romane ›Flugasche‹, ›Die Überläuferin‹, ›Stille Zeile sechs‹, ›Animal triste‹, ›Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte‹,
Weitere Kostenlose Bücher