Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
Kapitel 1. Der geheimnisvolle Fund.
Eine ungute Vorahnung breitete sich in ihrer Brust aus. Sie fühlte sich wie ein leises Klopfen an, das mit eiserner Beharrlichkeit die Ankunft von etwas nie Dagewesenem ankündigte. Sie schauderte, die Gänsehaut wallte bis an die Haarwurzeln auf. Weder die Angst vor Unbekanntem noch die Kälte waren schuld daran. Sie quälte eine schaurige Gewissheit, dass Geschehnisse dieses Tages alles unwiderruflich verändern würden.
Anna steckte ihre schweren, dunklen Haare zu einem festen Knoten im Nacken zusammen, stopfte die Hose tiefer in die Gummistiefel, zog den Regenmantel fester um sich und folgte dem nur ihr sichtbaren Pfad, der sich zwischen den weiten, versumpften Flächen schlängelte. Die feuchte Luft roch nach Schwefel, eine deutliche Note von Verwesung mischte sich dazu. Die junge Frau hielt sich die Nase mit der Hand zu und ermahnte sich selbst, sich nicht so anzustellen, man gewöhne sich schließlich nach einer Weile daran.
Es war der Tote Wald, durch den sie an diesem trüben Nachmittag wieder schritt. Dunkelbraunes Gebräu gluckste unter ihren Füßen, milchiger Nebel hing zwischen den morschen Bäumen. Er legte sich auf den Boden, zog sich über das schwarze Wasser der Tümpel, das hier und dort aufblubberte und ekligen Geruch freiließ, bettete die quer auf dem Weg liegenden Baumstämme mit seiner undurchschaubaren Decke zu. Anna wusste allzu gut, wie es weiterging. Einige Stunden später stieg der Nebel in unförmigen grauen Fetzen hoch, wurde dichter und kehrte als Nieselregen auf den Boden zurück.
Seit einigen Jahren hieß der Wald nicht mehr der Große oder der Magische wie früher, in guten alten Zeiten. Er war streng genommen auch kein Wald mehr. Von wenigen Überlebenden wurde er seit geraumer Zeit Toter Wald genannt, wobei es immer noch einer ungeheuren Schmeichelei glich, diesen Sumpf als Wald zu bezeichnen. Die bunte, fröhliche Oberwelt, die Anna immer aufs Neue fasziniert hatte, lebte jetzt nur noch in ihren Erinnerungen. Von der Üppigkeit der Pflanzen, der Kraft und Schönheit alter Eichen, der atemberaubenden Vielfalt von Farben und Düften, der klaren, reinen Luft, dem freien, grenzenlosen Himmel, von all den wunderbaren Dingen, die sie abgöttisch geliebt hatte, war nichts mehr übrig geblieben. Ein Tag glich dem anderen. Es war grau und kalt. Der dichte Nebel machte jede Hoffnung auf freien Himmel und klare Luft zunichte, und der starke, allgegenwärtige Geruch nach Schwefel und Verwesung raubte ihr und den noch übrig gebliebenen Oberweltlern die letzten Kräfte.
Die Jungmagierin zwang sich, bei jedem Schritt aufzupassen. Die Vorstellung, im ekligen Gebräu zu landen, schärfte ihre Sinne. Doch trotz aller Vorsicht rutschte sie hin und wieder aus und atmete jedes Mal erleichtert durch, wenn sie ihren Gang unbeschadet fortsetzen konnte.
Nach einer Weile lichtete sich der Nebel. Die junge Frau konnte ein paar Meter weiter sehen. Dicke, schwarze Stämme gefallener Bäume lagen vereinzelt über die weite Fläche zerstreut. Heute stand das Wasser in den Senken höher als die Tage zuvor. Schwacher Wind kam auf und brachte einen leicht süßlichen Geruch, von dem sich ihr Magen zusammenzog. Eine Welle von Ekel schnürte ihr die Kehle zu. Frisches Blut! Mit jedem Schritt wurde der Geruch deutlicher, gewann an Stärke und Würze. Bald wurde klar, woher er kam. Ein Stück weiter links türmten sich mehrere Rehkadaver übereinander. Anna wünschte sich, der Nebel wäre dichter, und stöhnte verzweifelt auf. „Nicht schon wieder!“
Zögernd kam sie der Stelle näher und warf einen genaueren Blick darauf. Die Tiere waren bestialisch zugerichtet: ihre Glieder herausgerissen und ein Stück weiter über einen Haufen geworfen, die Bäuche aufgeschlitzt. Glänzende Gedärme quollen heraus und dampften in der kalten Luft. Bei manchen Kadavern tropfte aus den eingeschlagenen Schädeln graublutige Masse und färbte das braune Gebräu darunter. Die Augen fehlten. Ausgestochen. Die Schwertvögel waren auch schon da . Diese perversen Viecher!
Es war ein Leckerbissen für die Biester. Angelockt vom Geruch des frischen Blutes eilten sie von einem Schlachtfeld zum nächsten und suchten sich ihre üppigen Mahlzeiten aus. Schwertvögel gab es noch nicht so lange im Toten Wald. Kurz, nachdem es tagein, tagaus so trüb, kalt und trostlos geworden war, waren sie zum ersten Mal aufgetaucht. Die Jungmagierin fragte sich verzweifelt, welche kranke Fantasie sie erschaffen
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