Flugasche
blieb seine Lust zu wandern auf die Sonntage beschränkt. Sonntags setzte sich der Großvater auf sein Fahrrad und besuchte Freunde. Wenn es Sommer war und die Freunde einen Garten hatten, brachte er der Großmutter abends Blumen mit.
Die Verrücktheit des Großvaters war verlockend. Verrückte Menschen erschienen mir freier als normale. Sie entzogen sich der lästigen Bewertung durch die Mitmenschen, die es bald aufgaben, die Verrückten verstehen zu wollen. Die sind verrückt, sagten sie und ließen sie in Ruhe. Bald nach meinem Entschluß, die Verrücktheit des Großvaters geerbt zu haben, konnte ich schon die Symptome an mir beobachten, die ich aus den Erzählungen meiner Mutter und meiner Tante Ida kannte. Ich wurde unruhig, jähzornig, verträumt. Als ich das erste Mal hörte, wie Ida meiner Mutter zuflüsterte: »Das muß sie von Papa haben«, genoß ich meinen Erfolg.
Selbst die Armut, in der die Familie meiner Mutter gelebt hatte, erschien mir reizvoll. Es war eine andere Armut als die, von der mein Vater sprach, wenn er mir zum Geburtstag ein Fahrrad schenkte und dabei vorwurfsvoll erklärte, daß man zum zehnten Geburtstag eigentlich noch kein Fahrrad bekommen dürfe, weil man sonst ein verwöhntes Gör würde. Er hätte sich sein Fahrrad erarbeiten müssen. Auch seinen Einsegnungsanzug hätte er sich erarbeiten müssen. Zeitungen hätte er austragen müssen, nach der Schule, und froh hätte er sein müssen, weil er sein verdientes Geld nicht zu Hause hätte abgeben müssen. Solche Reden konnte ich, ohne zu widersprechen, über mich ergehen lassen und ruhig auf den Einspruch meiner Mutter warten, der sich für gewöhnlich in einem ironischen Lächeln ankündigte, während sie meinem Vater noch zuhörte. Das verstünde sie nicht, begann sie scheinheilig, bei zwei Kindern, und Vater und Mutter hätten gearbeitet. Sie seien schließlich vier Kinder gewesen, der Vater Heimarbeiter für Konfektion, die Brüder arbeitslos. Aber sie hätte sich nichts selbst verdienen müssen als Kind und besaß mit zehn Jahren ein Fahrrad, ein altes zwar, aber ein Fahrrad, mit zwölf Jahren einen alten Fotoapparat, und als ihre Klasse in Skiurlaub fuhr und ihr die Ausrüstung fehlte, trieb ein Bruder Skier auf, der andere Stiefel, der Vater nähte nachts eine Hose, die Mutter trennte ihre Strickjacke auf und strickte einen Pullover. Die Brüder brachten sie zum Bahnhof und konstatierten zufrieden, daß ihre Schwester das hübscheste Mädchen in der Klasse war. Wir waren viel ärmer als ihr, sagte meine Mutter, aber wir waren keine Preußen.
Ohne zu wissen, was das Preußische an den Preußen eigentlich war, entwickelte ich eine ausgeprägte Verachtung für das Preußische, als dessen Gegenteil ich den Großvater Pawel ansah. Preußen waren nicht verrückt, das stand fest. Sie mußten ihre ersten Fahrräder selbst verdienen, wuschen sich den ganzen Tag die Hände und erfüllten ständig eine Pflicht. Preuße sein gefiel mir nicht. Da ich mich als genetische Alleinerbin des Großvaters fühlte, verdoppelte ich den Anteil jüdischen Blutes in mir und behauptete, eine Halbjüdin zu sein. Vierteljüdin klang nicht überzeugend. Bei jeder Gelegenheit verwies ich auf meine polnische Abstammung. Nicht, weil ich als Polin gelten wollte – ich kann mich nicht erinnern, jemals Stolz auf eine nationale Zugehörigkeit empfunden zu haben –, aber ich wollte keine Deutsche sein. Heute scheint mir, meine Abneigung gegen das Preußische gehörte zur Furcht vor dem Erwachsenwerden, das mich den geltenden Normen endgültig unterworfen hätte. Die Berufung auf meine Abstammung war die einfachste Möglichkeit, mich den drohenden Zwängen zu entziehen.
Der Großvater Pawel war tot, verbrannt in einem Kornfeld. Er gehörte mir. Er sagte, dachte und tat nichts, was mir nicht gefiel. Ich gab ihm alle Eigenschaften, die ich an einem Menschen für wichtig hielt. Der Großvater war klug, musisch, heiter, großmütig, ängstlich. Die Angst, die in ihm gelebt haben muß, war nicht zu leugnen, und es hat lange gedauert, ehe ich mich mit ihr abfinden konnte. Hätte ich nicht das Foto gefunden, das den Großvater vor einem kleinen Bauernhaus in Polen zeigt, wäre der Großvater für mich ein mutiger Mann geblieben. Auf dem Bild ist der Großvater mager und grauhaarig, den Mund verzieht er zu einem unsicheren Lächeln, die Augen blicken ängstlich und erschrocken. Das Bild wurde 1942 in dem Dorf aufgenommen, in dem die Großmutter Josefa geboren worden
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