Flugasche
Erster Teil
I.
Meine Großmutter Josefa starb einen Monat vor meiner Geburt. Ihren Mann, den Großvater Pawel, hatte man ein Jahr zuvor in ein polnisches Kornfeld getrieben. Als der Großvater und die anderen Juden in der Mitte des Kornfeldes angekommen waren, hatte man es von allen Seiten angezündet. Meine Vorstellungen von der Großmutter Josefa sind nie zu trennen von einem langen Zopf, einem blauen Himmel, einer grünen Wiese, Zwillingen, einer Kuh und dem Vatikan. Auf dem Foto, das an einer Wand meines Zimmers hängt, wäscht die Großmutter ab in einer weißen Emailleschüssel mit einem schwarzen Rand. Am Hinterkopf der Großmutter hängt ein schwerer Dutt, der aus einem Zopf zusammengerollt ist. Die Großmutter ist untersetzt, hat kräftige Oberarme und schwarzes Haar.
Die Kindheit der Großmutter hat mir meine Mutter oft als mahnendes Beispiel ausgemalt, wenn ich mein Zimmer nicht aufräumen wollte oder Halsschmerzen simulierte, um nicht in die Schule gehen zu müssen. Deine Großmutter wäre froh gewesen, wenn sie in die Schule hätte gehen dürfen, sagte meine Mutter dann und erzählte die traurige Geschichte von der sechsjährigen Josefa, die nicht lesen und schreiben lernen durfte, weil sie die Zwillinge und die Kuh hüten mußte. Ich gab zu, es besser zu haben als die Großmutter, die arm war und darum bis an ihr Lebensende mit drei Kreuzen unterschreiben mußte. Nicht einmal mir selbst gestand ich, die arme Josefa zu beneiden. Aber ich muß sie beneidet haben, denn das Bild von dem beneidenswerten Bauernmädchen, das meine Phantasie mir malte, war bunt und fröhlich. Das Kind Josefa saß unter einem blauen Himmel auf einer grünen Wiese mit vielen Butterblumen. Eine magere Kuh kaute stumpfsinnig vor sich hin. Die Zwillinge lagen nebeneinander im Gras und schliefen. Josefa hatte ihren weiten gestreiften Rock über die Knie gezogen, sie spielte an ihrem langen Zopf und sprach mit der Kuh. Sie war barfuß und mußte nicht in die Schule.
Später, als die Großmutter mit ihrem Mann aus Kurow bei Lodz nach Berlin gezogen war und vier Kinder geboren hatte, von denen meine Mutter das jüngste war, soll sie zu jedem Essen Sauerkraut gekocht haben, mit Speck, Zwiebeln und angebräuntem Mehl lange geschmort, bis es weich und bräunlich war. Noch heute lehnen meine Mutter und Tante Ida jede Zubereitung von Sauerkraut ab, die dem Rezept meiner Großmutter nicht absolut entspricht.
Warum mir im Zusammenhang mit der Großmutter immer das Wort Vatikan einfällt, weiß ich nicht genau. Die religiösen Verhältnisse der Familie waren für das ordentliche Preußen chaotisch. Der Großvater Jude, die Großmutter getaufte Katholikin, später einer Baptistensekte beigetreten, die Kinder Baptisten. Auf den Vatikan soll die Großmutter oft geschimpft haben. Sie soll, wenn auch Analphabetin, eine intelligente Frau gewesen sein.
Obwohl ich die Großmutter um ihre Kindheit auf der grünen Wiese beneidete und mit ihrer überlieferten Kochkunst sehr zufrieden war, beschloß ich an einem Tag gegen Ende meiner Kindheit, meine wesentlichen Charaktereigenschaften von ihrem Mann, dem Großvater Pawel, geerbt zu haben. Die Eltern meines Vaters zog ich für die genetische Zusammensetzung meiner Person nicht in Betracht. Er war ein biederer Pedell, sie eine biedere Zugehfrau. Beide hatten, soweit ich das aus Erzählungen schließen konnte, an erstrebenswerten Eigenschaften wenig zu bieten.
Im Wesen des Großvaters Pawel eröffneten sich mir eine Fülle charakterlicher Möglichkeiten, mit denen sich eine eigene Zukunft denken ließ und die zugleich geeignet waren, die Kritik an meinem Wesen auf das großväterliche Erbteil zu verweisen. Der Großvater war verträumt, nervös, spontan, jähzornig. Er stand nicht auf, wenn die Katze auf seinem Schoß saß, kochte jeden Morgen jedem seiner Kinder, was es zum Frühstück trinken wollte, Tee, Milch, Kaffee oder Kakao, und soll überhaupt ein bißchen verrückt gewesen sein. Meine Mutter sprach von der ewigen Unruhe des Großvaters, der mal nach Rußland und mal nach Amerika auswandern wollte, was nur durch das rustikale Beharrungsvermögen der Großmutter Josefa verhindert wurde. Wenn der Großvater und die Großmutter sich stritten, drohte der Großvater, nun endgültig auf Wanderschaft zu gehen. Aber Mama packt mir ja nie die Wäsche, fügte er meistens hinzu, und blieb. Als er eines Tages wirklich gehen mußte, ging er nicht freiwillig, und die Großmutter ging mit ihm. Davor aber
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