Flut: Roman (German Edition)
Torben sah weder auf die Uhr noch blickte er auf die Leuchttafel über der Tür, aber etwas in ihm registrierte akribisch das Verstreichen jeder einzelnen Sekunde. Sie waren maximal in der sechsten Etage, vielleicht auch erst in der fünften. Etwas stimmte nicht.
Torben trat zur Seite, um Platz zu machen, als eine junge Krankenschwester ein Bett in die Kabine schob. Der Lift, der ihm bisher riesig vorgekommen war, wurde plötzlich winzig. Für fünf Männer, die Krankenschwester und das gut zwei Meter lange Bett schien er kaum auszureichen. »Nach oben?«, fragte die Schwester. Sie sah niemand Bestimmten dabei an und noch während sie die Frage stellte, streckte sie bereits die Hand aus und drückte den Knopf für die siebte Etage, aber Torben meinte trotzdem eine Spur von Verwirrung in ihrer Stimme zu hören. Vielleicht waren fünf fremde Gesichter auf einmal zu viel, selbst für ein Krankenhaus dieser Größe. Und vielleicht waren ihre Verkleidungen doch nicht so gut, wie er sich eingeredet hatte. Vielleicht sah man ihnen auch einfach an, weshalb sie gekommen waren.
Torben warf einen nervösen Blick in Pjotrs Richtung. Der Russe hatte seinen Kittel wieder geschlossen. Die Waffe war nicht zu sehen und in seinen Augen stand sogar die perfekte Lüge eines angedeuteten Lächelns, während er die junge Schwester ansah, auch wenn Torben nicht über den wirklichen Grund dieses Lächelns nachzudenken wagte. Es gab keinen Grund, nervös zu sein, versuchte er sich zu beruhigen. Es war ein paar Minuten vor Mitternacht. Der Schwester brannte die Zeit auf den Nägeln und sie war müde, und das war alles.
Die Kabine bewegte sich eine Etage weit in die Höhe und hielt dann wieder an. Torbens Herz begann erschrocken zu klopfen, als Pjotr sich zu der Krankenschwester herumdrehte und es so aussah, als wollte er etwas sagen, aber dann begnügte er sich doch damit, ihr mit dem Bett zu helfen, das sich mit sehr viel mehr Mühe wieder hinausbugsieren ließ, als sie es in die Kabine hineingeschoben hatte. Torben sah nun doch auf die Uhr. Noch drei Minuten. Die Krankenschwester mit ihrem Bett hatte ihre Sicherheitsreserve vollkommen aufgezehrt. Sie lagen immer noch genau im Zeitplan, aber nun durfte wirklich nichts mehr schief gehen.
Auf die Sekunde pünktlich verließen sie die Liftkabine und wandten sich nach links. Mikail und die beiden Brüder gingen voraus, wie sie es besprochen hatten, während Pjotr und er in langsamerem Tempo folgten. Auf diese Weise, so hoffte er, fielen sie weniger auf. Drei Ärzte, die sich beeilten, und ein vierter, der mit einem besorgten Angehörigen eines Patienten langsamer nachfolgte. Torben war der Einzige, der keinen weißen Kittel trug, sondern einen schlichten, dunkelgrauen Straßenanzug. Sein Herz schlug für einen Moment schneller, als sich Mikail der Zwischentür näherte. Sie war jedoch nicht verschlossen. Sie konnten ihren Zeitplan einhalten. Sie hätten es auch so gekonnt. Torben zweifelte nicht daran, dass die Söldner nur Sekunden gebraucht hätten, um die Tür aufzubrechen, obgleich sie einen äußerst stabilen Eindruck machte. Aber es war genau dieser Moment, vor dem er Angst hatte. Er hätte sich etwas vorgemacht, hätte er sich ernsthaft eingeredet, dass es ohne Gewalt oder zumindest ihre massive Androhung abgehen würde, aber noch waren sie nicht mehr als fünf Fremde, deren Anblick allenfalls Grund für ein fragendes Stirnrunzeln bot – und vermutlich nicht einmal das. Und bis sie den Kreißsaal verließen, musste das auch so bleiben.
Ein dumpfer Knall wehte von draußen herein, als sie durch die Tür traten, und Torben fuhr so erschrocken zusammen, dass auch Pjotr instinktiv die Hand hob und stirnrunzelnd in seine Richtung sah. Torben schüttelte hastig und sehr nervös den Kopf. Vor seinem inneren Auge sah er, wie der Russe die Bewegung fortführte und die Waffe unter dem Kittel hervorzog. Aber es war nur eine Vision.
»Nichts«, sagte er. »Alles in Ordnung. Nur ein Silvesterböller, den jemand zu früh gezündet hat.«
Das Gesicht des Russen blieb starr. Torben vermochte nicht zu sagen, ob er sich mit dieser Erklärung zufrieden gab oder nicht. Es spielte auch keine Rolle. Verstohlen sah er sich um. Der Flur war sehr lang, taghell erleuchtet und nicht annähernd so leer, wie er es gehofft hatte. Er sah auf Anhieb mindestens vier Personen, aber wahrscheinlich waren es mehr: Ein junger Mann in weißer Krankenhauskleidung stand an dem einzelnen Fenster am Ende des Ganges und
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