Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
aber auch nicht zu früh.
    Sie hatten so verzweifelt wenig Zeit für eine so entsetzlich große Aufgabe.
    Er stand auf. Pjotr und die drei anderen Söldner erhoben sich ebenfalls und sie verließen wortlos den kleinen Kellerraum, in dem sie die letzten anderthalb Stunden zugebracht hatten. Es waren die sonderbarsten anderthalb Stunden gewesen, an die sich Torben erinnern konnte. Auf der einen Seite schienen sie sich zu anderthalb Ewigkeiten gedehnt zu haben, die einfach kein Ende nehmen wollten, und zugleich hatte er das Gefühl, vor wenigen Augenblicken überhaupt erst gekommen zu sein. Aber es hatte ja auch noch nie zuvor so viel auf dem Spiel gestanden.
    Auf dem Weg zum Aufzug zogen die Männer ihre Kittel an. Der Russe setzte zusätzlich eine Brille mit schwerem Horngestell auf und strich sich das schwarze Haar aus der Stirn. Die Veränderung, die durch diese wenigen, simplen Handgriffe mit den Männern vonstatten ging, war erstaunlich. Selbst Torben hätte Pjotr den jungen Assistenzarzt auf dem Weg zu einem Routineeinsatz beinahe geglaubt.
    Sie mussten einen Moment warten, bis der Aufzug kam, aber Torben hatte eine Minute dafür einkalkuliert. Sie lagen immer noch gut in der Zeit. Als Pjotr die Hand nach der Schalttafel ausstreckte, klaffte sein weißer Arztkittel auf und Torben sah schwarz eingeöltes Metall darunter glitzern. Er erschrak. Natürlich hatte er gewusst, dass der Russe bewaffnet war, aber nun hatte er die Uzi direkt unter den Gürtel geschoben, griffbereit. Pjotr registrierte seinen Blick selbstverständlich. Er sagte nichts, aber in seinen Augen blitzte es auf eine Weise auf, die Torben zwar nicht deuten konnte, die ihn aber beunruhigte, während er zurücktrat und sich zu ihm herumdrehte. Vielleicht einzig wegen dieses Blickes fragte Torben: »Was soll diese Waffe?«
    Pjotr ließ eine Sekunde verstreichen, ehe er antwortete. »Nur zur Sicherheit. Für alle Fälle.« Er sprach einen schweren, rollenden Akzent, der seine Herkunft deutlich verriet, aber trotzdem klar verständlich war und eine seltsame Wirkung hatte. In der Rolle des Söldners hatte er ihn bedrohlicher und auf schwer greifbare Weise gefährlicher wirken lassen, jetzt, in der Rolle des jungen Assistenzarztes, hatte er etwas Vertrauen Einflößendes.
    »Ich will nicht, dass irgendjemandem etwas passiert«, sagte Torben. Wie lächerlich diese Worte selbst in seinen eigenen Ohren klangen.
    Pjotr machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Wozu auch? Torben hatte diesen einen Satz ungefähr tausend Mal gesagt, seit sie das erste Mal zusammengekommen waren, aber sie wussten alle, wie wenig es möglicherweise nutzte. Was geschehen würde, würde geschehen. So einfach war das.
    Während der Aufzug nach oben summte, immerhin acht Etagen, das Kellergeschoss mitgerechnet, in dem sie eingestiegen waren, musste sich Torben mit aller Kraft beherrschen, um das blinkende Licht über der Tür nicht anzustarren, das etwas Hypnotisierendes zu haben schien. Ein blinzelndes Dämonenauge, das ihm voller tückischer Vorfreude erklärte, dass, egal was er tat, ihr Unternehmen nur in einer Katastrophe enden konnte. Er wollte nicht, dass die anderen seine Nervosität bemerkten, obwohl es keine Schande war. Sie alle waren nervös, selbst Pjotr. Er fragte sich, warum er eigentlich so sehr auf den Russen fixiert war. Die Söldnertruppe bestand aus vier Männern: Pjotr, Mikail – einem Rumänen oder Bulgaren, so genau wusste Torben das nicht, denn Mikail sprach kein Wort Deutsch – und den beiden Brüdern Lev und Stanislav, die aus Lettland stammten und aus ihrer feindseligen Haltung Pjotr gegenüber keinen Hehl machten. Der Russe war nicht einmal der Anführer der Söldnertruppe – es gab keinen –, aber der Einzige, dessen Name Torben nicht erst eine halbe Sekunde lang aus dem Gedächtnis kramen musste, und derjenige, dessen Gesicht sofort vor seinem inneren Auge erschien, wenn er über diesen Trupp gekaufter Krieger nachdachte oder über das, was sie vorhatten. Was seit drei Monaten praktisch ununterbrochen der Fall war. Irgendetwas Besonderes war an Pjotr. Torben wusste nicht, was. Der Söldner strahlte Gewaltbereitschaft und Tod aus wie einen schlechten Geruch, doch das galt für die drei anderen mindestens im gleichen Maß. Aber da war noch irgendetwas, das nur zwischen ihm und Pjotr war, und es war nichts Gutes.
    Ein heller Glockenton erklang. Die Liftkabine kam mit einem kaum spürbaren Ruck zum Halten und die Türen glitten auf. Zu früh.

Weitere Kostenlose Bücher