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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Serin
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meinen eigenen Misserfolgen deprimieren lassen? Je schlechter es bei
     den anderen lief, desto besser wurde im Verhältnis dazu das, was ich zeigte.
    Auch wenn Frau Steinert am energischsten auf mein Hospitationsansinnen reagierte, so spürte ich bei allen Lehrern, die mich
     nicht in ihren Unterricht lassen wollten, ähnliche Ängste. Oft vernahm ich: «Diesmal nicht! Die Klasse lässt sich von Besuch
     immer so leicht ablenken. Fragen Sie mich später noch mal.» Oder: «Heute nicht, vielleicht nächste Woche. Heute werte ich
     nur den Test aus. Das bringt Ihnen nichts.» Dieselben Lehrer, die mich auf die nachfolgende Woche vertrösteten, zogen in eben
     jener Woche, als sie mich kommen sahen, schnell die Tür ihres Klassenzimmers zu und verschlossen diese, obwohl die Pause noch
     fünf Minuten andauerte. Sie nahmen in Kauf, nur mit der Hälfte der Schüler Unterricht zu machen, einzig um mich nicht mit
     den Nachzüglern in den Raum zu lassen.
    Frau Landruth-Hendricks, resignierte Altachtundsechzigerin, Kettenraucherin mit von vielen Marokkobesuchen sonnengegerbter
     Haut und eine der wenigen Westberlin-Importe an unserer Schule, versuchte mich mit der Bemerkung fernzuhalten, sie spiele
     in der Stunde lediglich
Hangman
. Nachdem sie mir das in drei aufeinanderfolgenden Wochen erzählt hatte, wurde ich misstrauisch. Ich bestand darauf, trotzdem
     zu hospitieren, weil ich ihr das ständige
Hangman
-Spielen nicht abnahm. Viermal habe ich bei ihr hospitiert. Jedes Mal hat sie mit der Klasse
Hangman
gespielt, |43| obwohl sie das, wie mir die Schüler versicherten, vorher noch nie getan hätte. Offenbar fürchtete sie, sich vor mir mit ihrem
     regulären Unterricht zu blamieren. Auch diese Sorge teilte sie mit zahlreichen Kollegen. Denn selbst einige, die mir einen
     Besuch bei ihnen nicht verwehrten, verbrachten regelmäßig einen nicht unerheblichen Teil der fünfundvierzig Unterrichtsminuten
     hinten bei mir, um mir zu erklären, dass die Schüler «heute aber ein bisschen aufgekratzt sind» oder dass «heute der Wurm
     drin ist, kein Vergleich zu sonst». Vielleicht taten sie das aber in Wirklichkeit auch nur, um herauszufinden, was ich auf
     meinem Beobachtungsbogen notierte, beziehungsweise um mich davon abzuhalten, dort etwas Kritisches über sie zu vermerken.
     Andere verlangten von mir noch in der Stunde eine umgehende Fehleranalyse und erbaten sich Tipps, wie sie den Unterricht zukünftig
     besser gestalten könnten. Dabei hatte ich überhaupt noch keine Ahnung, so am Anfang meines Referendariats, weshalb ich jedes
     Mal nur meinte: «Das fand ich toll, was Sie da gemacht haben. Ich habe eine Menge gelernt» – auch wenn ich meistens nichts
     gelernt hatte. Aber ich fühlte mich nicht imstande, an ihrem Unterricht herumzumäkeln und ihnen Ratschläge zu erteilen.
    Am unangenehmsten verhielt sich meine Fachbereichsleiterin für Französisch, Frau Reiz, eine steife, strenge, humorlose und
     oftmals zynische Kollegin um die sechzig. Sie verlangte von mir, ihr die Protokolle, die ich zu meinen Hospitationen anfertigen
     musste, am Ende jeder Stunde zur Korrektur vorzulegen. Wie ein ungezogener Schüler musste ich nach dem Pausenklingeln an ihren
     Lehrertisch zum Rapport, damit sie dort – den Oberkörper mustergültig im rechten Winkel zur Tischplatte ausgerichtet, die
     Schultern rückenschulentechnisch korrekt nach hinten gezogen, den Mund streng gespitzt, die Augen hinter ihrer dickrahmigen
     Lesebrille konzentriert zusammengekniffen, mit rotem Fineliner in ihrer schlanken Schreibhand – meine Aufzeichnungen durchgehen |44| konnte. Irgendwann setzte sie ihre Brille ab, die nun an einer goldenen Kette um den Hals baumelte, und überhäufte mich mit
     Kritik. Ihrer Meinung nach hatte ich zu schlecht protokolliert. Bald ging ich nicht mehr zu ihr in den Unterricht. Ihre Belehrungen
     konnte ich gewiss nicht gebrauchen. Ich war mit dem Protokollieren eh schon überfordert. Da benötigte ich niemanden, der noch
     zusätzlich Druck auf mich ausübte.
    In den ersten Hospitationsstunden saß ich tatsächlich ratlos über meinem von Herrn Schubert ausgegebenen Protokollbogen, der
     Spalten für
Zeit
,
Lerninhalt
,
Schüleraktivität
,
Medien
und
Bemerkungen
enthielt. Keinen blassen Schimmer hatte ich, was dort eigentlich stehen sollte. So schrieb ich einfach alles hin. Wie ein
     Stenograf notierte ich jede Äußerung, die im Unterricht gemacht wurde, jede Bewegung der Schüler und des Lehrers, selbst wenn
     nur

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