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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Serin
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jemand das Fenster schloss. Bereits fünf Minuten nach dem Stundenklingeln hatte ich regelmäßig Vorder- und Rückseite meines
     Bogens vollgekliert und griff mit schmerzendem Handgelenk nach einem neuen Blatt.
    Von Frau Stahl, meiner Seminarleiterin für Geschichte, lernte ich kurz darauf, dass eine Hospitation nur etwas bringe, wenn
     man die eigene Aufmerksamkeit auf jeweils einen Aspekt fokussiere. Sie verteilte dazu konkrete Beobachtungsaufträge:
Achten Sie bei Ihrer Hospitation besonders auf die verbale Impulsgebung des Lehrers! Achten Sie bei Ihrer Hospitation besonders
     darauf, ob eine Progression der Lernziele erkennbar ist! Achten Sie auf die Transparenz der Unterrichtsphasen! Achten Sie
     auf die Gesprächsführung des Lehrers! Achten Sie auf die nonverbalen Signale des Lehrers! Achten Sie besonders auf den Medieneinsatz!
Mir brachten diese Beobachtungsaufträge nichts, denn Frau Stahl gab keine Erläuterungen, was genau darunter zu verstehen war.
     Dennoch probierte ich alle Aufträge dilettantisch durch. Sie schienen mir immer noch besser, als einfach weiter alles zu Papier
     zu bringen.
    |45|
Achten Sie besonders auf den Medieneinsatz!
hätte von mir erfordert, wie ich erst viel später erfuhr, den Einsatz der Unterrichtsmedien kritisch auf ihre Funktionalität
     zu prüfen. Dies anfangs nicht wissend, vermerkte ich in meinem Protokoll nichtssagende Wortreihen wie
Tafel
,
Tafel
,
Polylux
,
Folie
,
Stifte , Arbeitsblatt
,
Tafel
. Ähnlich unstrukturiert ging ich mit den
verbalen Impulsen
des Lehrers um. Statt beispielsweise festzuhalten, ob Herr X oder Frau Y weite oder enge Impulse setzten, ob sie auf Entscheidungsfragen
     («War der Buchdruck für die Kirche ein Segen?») zugunsten klarer Aufforderungen an die Schüler («Erläutere mir begründet,
     ob der Buchdruck für die Kirche ein Segen ist!») verzichteten oder ob ihre Impulse eindeutig waren, dokumentierte ich weiterhin
     jede Lehreräußerung. Auf die
Progression der Lernziele
konnte ich nicht achten, weil mir kein Lehrer seine Lernziele vor der Stunde offenlegte. Mein Bogen blieb also bei diesem
     Schwerpunkt leer. Wenig ertragreich beobachtete ich auch, wenn ich mich auf die
Transparenz der Unterrichtsphasen
konzentrierte. Ich konnte mir nie sicher sein, ob ich richtig lag, da ich vom Lehrer nie einen Unterrichtsentwurf erhielt,
     mit dem ich die Umsetzung hätte abgleichen können. Ich musste also raten und schrieb beispielsweise:
Schüler kapieren nichts. Ich aber auch nicht. Kann sein, dass das vom Lehrer so beabsichtigt ist.
Wie ich die
Gesprächsführung des Lehrers
festhalten sollte, blieb meiner Intuition überlassen. Notgedrungen notierte ich:
Lehrer redet sehr viel.
Oder:
Lehrer redet sehr wenig.
Oder:
Lehrer führt das Gespräch nicht, dafür führt aber die Klasse das Gespräch des Lehrers.
Was
nonverbale Signale
waren, konnte ich mir vorstellen. Nur: Bedeutete das, festhalten zu müssen, wenn der Lehrer bei einer falschen Schülerantwort
     mit den Augen rollte oder sich die Haare raufte? Und überhaupt: Welche Erkenntnis sollte ich aus all diesen Stichpunkten für
     meinen eigenen Unterricht ziehen?
    Die von meiner Fachseminarleiterin für Französisch, Frau Lau, |46| empfohlenen Beobachtungsaufträge waren verständlicher als die von Frau Stahl, aber auch nicht ergiebiger:
Notieren Sie, wie viele Schüler in der Stunde zu Wort kommen!
Oder:
Notieren Sie, wie der Lehrer die Schüler lobt!
Nur was lernte ich daraus, wenn zum Beispiel fünfzig Prozent der Schüler drankamen? Dass die anderen fünfzig Prozent das nächste
     Mal an der Reihe waren? Dass die Lehrerin die anderen fünfzig Prozent nicht mochte? Oder dass die anderen fünfzig Prozent
     die Lehrerin nicht mochten? Und was brachte es mir, wenn ich fünfundvierzig Minuten Lob protokollieren wollte, mein Hospitationsbogen
     aber weiß blieb, weil an unserer Schule für viele Kollegen die Devise galt, Schüler bis zum Abi möglichst nur zu kritisieren?
     Es war ziemlich frustrierend. Ich konnte so viel oder so wenig schreiben wie ich wollte, ohne dabei etwas für meinen eigenen
     Unterricht zu lernen.
    André Groll, der Englischreferendar, quälte sich ähnlich stark mit dem Protokollieren. Als wir von Referendaren, die in der
     Ausbildung weiter als wir waren, erfuhren, dass nie jemand die Hospitationsprotokolle sehen wollte, überlegten wir, diese
     lästige Beschäftigung sein zu lassen. Wir wagten diesen Schritt nicht ganz, kamen aber der offenbar rein formalen

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