Föhn mich nicht zu
Deswegen habe ich Ihnen die Randstunden gegeben.» An drei
Tagen, an denen ich keine Ausbildungsseminare hatte, sondern am Gymnasium war, unterrichtete ich immer in der nullten, der
ersten oder der zweiten sowie in der siebten oder der achten Stunde. Dazwischen hatte ich frei. Damit allein hätte ich noch
leben können. Nur verleitete meine vermeintlich permanente Verfügbarkeit Frau Witt auch dazu, mir ständig die Vertretungsstunden
aufzudrücken, für die sie keinen anderen Lehrer fand. Mit Vorliebe setzte sie mich ein, wenn sich ein Kollege kurzfristig
krankmeldete. War ich gerade nicht in der Schule, klingelte bei mir kurz darauf das Telefon.
Natürlich versuchte ich, mich dieser Vertretungsflut zu entziehen oder sie zumindest einzudämmen. Ich probierte es mit der
Taktik, bei Anrufen zu behaupten, ich sei nicht zu Hause – mit wiederholten Misserfolgen:
«Serin!»
«Hallo, Herr Serin. Hier Frau Witt. Können Sie in zehn Minuten in der vierten Stunden in der 9b für Herrn Klaus in Chemie
einspringen?»
«Ich würde das wirklich gern tun, aber leider bin ich nach Marzahn gefahren, weil es im EASTGATE bei Aldi billige Computer
gibt.»
«Und wieso erreiche ich Sie über Ihre Festnetznummer?»
«Mein Apparat hat eine Rufumleitung.»
«Herr Serin, kommen Sie jetzt, oder ich muss Ihrem Hauptseminarleiter eine Mitteilung machen.»
|50| Beim nächsten Mal ging ich erst gar nicht ans Telefon. Prompt erhielt ich eine SMS: «Herr Serin, ich sehe Sie am Fenster stehen
.
» Ich schaute hinüber zur Schule und erblickte Frau Witt, wie sie mir aus ihrem Büro zuwinkte. Fortan zog ich die Vorhänge
zu. Aber Frau Witt schickte nun einfach Schüler bei mir vorbei, die mich holen sollten. Und da ich weder Fernsprechanlage
noch Türspion besaß, war ich ihnen hilflos ausgeliefert.
Als wenn Frau Witt nicht gereicht hätte – ich hatte es zusätzlich mit Burak zu tun. Er war ziemlich klein für einen Dreizehnjährigen,
trug aber bereits Goldkettchen um Hals und Handgelenk. Seine schwarzen kurzen Haare waren, wie es sich für einen durchtrainierten,
wenn auch leicht übergewichtigen Womanizer gehörte, immer bestens gegelt. Burak besuchte die 8b und war ein Schüler von mir.
An sich war das kein Problem, aber er wohnte in der Wohnung nebenan. Seine Leistungen waren mäßig, und häufig erschien er
zu spät oder gar nicht zum Unterricht. In der ersten Zeit empfand ich die Nähe sogar als Vorteil. Schließlich konnte ich ihn
so besser kontrollieren. Damit er nicht zu spät kam oder schwänzte, klingelte ich immer um 7.40 Uhr bei ihm, um ihn abzuholen. Das fand ich so lange witzig, bis er anfing, jeden Morgen an meiner Tür zu läuten. Bereits
um 7.10 Uhr stand er, ein diebisches Lächeln im Gesicht, in Jogginghose, Trainingsjacke und seinen schwarzen Nike-Turnschuhen vor
meiner Tür, um mit mir gemeinsam zur Schule zu gehen. Um mich dieser Schikane zu entziehen, machte ich mich fortan um 6.40 Uhr auf den Weg. Die Schule war zwar um 6.42 Uhr, wenn ich sie erreichte, noch verschlossen, aber damit musste ich leben.
Besonders dreist wurde Burak vor einem meiner benoteten Unterrichtsbesuche. Er hatte davon Wind bekommen, wie viel vom Verlauf
dieser Vorführstunde für mich abhing. Und als ich am Tag davor gerade meine Wohnung verließ, um den Müll herunterzubringen,
öffnete sich auch seine Tür:
|51| «Herr Serin. Gut, isch Sie treffe. Ischab auch Müll. Nemse mal runter für misch!»
«Wieso sollte ich?»
«Wenn nisch, dann gehisch morgen zu Unterrischt. Und ich mach nur Scheiß.»
Natürlich ließ ich mich nicht nötigen. Wenn ich Burak einmal nachgab, dann war ich für immer sein Opfer. Also sagte ich: «Ich
lass mich nicht erpressen, Burak.»
Dass ich seinen Müll dann doch mitnahm, lag allein daran, dass ich sowieso zu den Mülltonnen musste.
Am schlimmsten aber waren die Auswirkungen auf meine Beziehung zu Melanie. Buraks Zimmer lag direkt neben meinem, in dem,
weil ich nur eins besaß, auch zugleich mein Bett stand. Die dünnen Wände dämpften die Geräusche bestenfalls wie ein Lamellenrollo.
Folglich gab es einen regen akustischen Austausch zwischen unseren Räumen. Zwar konnte ich deswegen nach wenigen Wochen die
Dialoge sämtlicher Horror- und Splatterklassiker der Filmgeschichte mitsprechen. Aber im Gegenzug wusste Burak jederzeit,
wie es um das Sexualleben zwischen mir und Melanie bestellt war. Wenn sie bei mir war, dann durchweg schlecht, denn wir
Weitere Kostenlose Bücher