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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Serin
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lieber die Finger
     ließen. Aber «Je suis venu te dire que je m’en vais» war frei von Provokation, es sei denn, man empfand es als provokativ,
     dass jemand eine Beziehung beendete.
    Mit diesem Chanson wollte ich mich den Schülern von meiner empfindsamen Seite zeigen. Bisher hatten sie mich ausschließlich
     als jugendlich, locker und cool erlebt. Aber ich war natürlich viel komplexer. Als ich in einem Video eine weinende Jane Birkin
     den Gainsbourg-Song als Hommage an ihren kurz zuvor verstorbenen Ex covern sah, kamen selbst mir die Tränen. Diese Sensibilität
     hatte ich bisher im Unterricht nicht offenbaren können. Ich musste hart auftreten, um zu bestehen. Aber nun, in der Stunde
     des Abschieds, konnte ich es mir leisten, mich zu öffnen. Vielleicht konnte ich darüber hinaus noch das eine oder andere Mädchen
     der Klasse emotional an mich binden, sodass diese ein Weinen nicht unterdrücken konnten, weil ich sie verließ. Vielleicht
     sogar Nedime, die in den letzten Monaten wiederholt zwei- bis eindeutige Bemerkungen zu mir gemacht hatte, die mir den |244| Eindruck vermittelten, als sehe sie in mir nicht nur den Lehrer, sondern auch einen Mann. Und ihr Lehrer war ich bald sowieso
     nicht mehr   …
    Selbstverständlich ließ ich die Schüler nicht unvorbereitet auf das Lied los, sondern begann mit einer vorbereitenden Aktivität
     zur thematischen und motivationalen Einstimmung. Meine
activité avant l’écoute
22 verlangte von ihnen, zu notieren, auf welche Weise man mit seinem Partner Schluss machen konnte. Die Möglichkeiten wollte ich als Mind Map auf einer Overhead-Folie sammeln.
     Die Schüler nannten
Gespräch führen
,
SMS schreiben
,
sich einfach nicht mehr beim anderen melden
,
Handynummer wechseln
und
den alten Freund mit dem neuen Freund besuchen gehen
. Danach leitete ich über zum Chanson, indem ich die Tafel aufklappte, auf der der Interpret und der Titel standen. Anschließend
     bat ich Ahmet, den DV D-Player anzuwerfen.
    Ich hatte ein YouTube-Video ausgewählt, das Serge Gainsbourg bei einem Fernsehauftritt sitzend inmitten einer größeren Zahl
     ebenfalls sitzender Frauen zeigte. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen, trug einen schwarzen Anzug und ein hellblaues,
     halb aufgeknöpftes Hemd, unter dem die nackte Brust zum Vorschein kam. Dem Pornolicht, dem körperlichen Verfall und dem Alkoholisierungsgrad
     des Künstlers nach zu urteilen, musste das Video Ende der Siebziger oder Anfang der Achtziger aufgenommen worden sein. Während
     Gainsbourg beim Singen angestrengt auf seinem Stuhl vor- und zurückrutschte, überboten sich die in dunklen Seiden- oder Satinkleidern
     gewandeten Frauen darin, ganz
noblesse oblige
, ihre statusbedingte Eleganz durch die völlige Abwesenheit enthemmter oder wenigstens expressiver Mimik und Gestik zur Schau
     zu stellen. Behilflich waren ihnen dabei sicherlich die weißen, tief liegenden Schalensessel, die hervorragend für |245| ein kurzes Nickerchen geeignet waren, weniger aber für schwungvolle Bewegungen zur Musik. Und so waren das Schnäuzen der älteren
     Dame mit der Gabi-Zenker-Frisur am rechten vorderen Bildrand, das Zigarette-zum-Mund-Führen der Blondine links hinten und
     das ruhige Mit-dem-Kopf-Wippen der Braunhaarigen in der Bildmitte das Äußerste an Körpereinsatz der Zuhörerinnen, während
     sich das Gros der Frauen darauf beschränkte, einfach nur ausdruckslos und gelangweilt in irgendeine Richtung zu starren, selbst
     nur in eine, wo kein Serge Gainsbourg saß. Doch es gab auch ein paar, die den Sänger konzentriert beobachteten, wie die aufmerksame
     Wasserstoffperoxidblondine mit der Bobfrisur, deren Blick die gesamte Dauer des Liedes über auf seinem nur zwanzig Zentimeter
     entfernten rechten Ohr ruhte. Ein Wunder, dass er sich davon nicht völlig aus dem Konzept bringen ließ und tapfer weitersang.
    Die Schüler hingegen schon. Sie hatten merklich Mühe, sich auf ihren Arbeitsauftrag zu konzentrieren.
Décrivez l’ambiance de la chanson!

Beschreibt die Stimmung des Liedes!
Hierbei sollten sie, ausgehend von der Körpersprache des Sängers und der Art, in der der Song vorgetragen wurde, stichpunktartig
     festhalten, ob aus dem Lied beispielsweise Wut, Trauer, Spott oder Hass etc. sprachen. In einem zweiten Durchgang hatte ich
     geplant, die Schüler vermeintliche Schlüsselwörter notieren zu lassen. Aber schon beim ersten Schauen wurde mir klar, dass
     die Jugendlichen nicht bei der Sache waren. Als

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