Der vergessene Papst: Historischer Roman (German Edition)
Kapitel 1
Tayeb griff nach seinem Schwert, blieb plötzlich stehen und lauschte mit geneigtem Kopf. Trotz des kobaltblauen Schleiers, den er über Mund und Nase gezogen hatte, spürte ich seine Anspannung.
Ein Krieger, bereit zu töten.
Ich hielt den Atem an und horchte.
Nicht weit von uns entfernt rauschten die Wellen an den Strand von Al-Iskanderiya. Die trockenen Grasbüschel auf den Dünen raschelten im Nachtwind. Das Boot, in dem wir von der Stadt hierhergerudert waren, hatten wir nur drei, vier Schritte auf das flache Meeresufer gezogen, um im Falle eines Angriffs schnell entkommen zu können.
Stille.
Was hatte Tayeb gehört?
Mein Herz raste. Meine Hand verkrampfte sich um den Griff des Dolches, den ich unter dem arabischen Gewand trug. Trotz der kühlen Brise rann mir der Schweiß über das Gesicht.
»Werden wir verfolgt?«
Mit einer Geste gebot Tayeb mir zu schweigen und starrte weiter in die Finsternis. Seine Augen funkelten im Licht der Sterne.
Zugegeben, ich war jedes Mal aufgeregt, wenn ich mich auf Schatzsuche begab. Wenn ich mich durch den Staub einer Klosterbibliothek wühlte, um verlorene Schätze zu entdecken. Doch in dieser Nacht suchte ich nicht nach verschollenen antiken Handschriften, sondern nach dem größten Schatz der Menschheit, der seit Jahrhunderten verloren war: der berühmten Bibliothek von Alexandria.
Tayeb schob sein Schwert zurück und zog den Schleier der Tuareg bis unter das Kinn. »Ich wollte dich nicht erschrecken, Alessandra!«, flüsterte er. »Aber ich dachte, ich hätte etwas gehört.«
Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Lass uns weitergehen, Tayeb. Wir haben nur wenig Zeit.«
»Bism' Allah!« Tayeb berührte die silberne Amulettkapsel mit den Koranversen an seinem Turban. Dann stapfte er durch den tiefen Sand am Strand entlang.
Bevor ich mich umwandte, um ihm durch das Ruinenfeld zu folgen, warf ich einen Blick zurück.
Es war schon spät, doch Al-Iskanderiya war noch hell erleuchtet. Die Staubwolke, die der Wind aus der nahen Wüste heranwehte, legte sich wie ein geheimnisvoller Schleier aus purpurnem Licht über die Stadt. Für die Muslime war dies eine Winternacht des Jahres 842. Die orthodoxen Christen begingen an diesem 24. Dezember 1438 die Geburt des Erlösers. Während der abendlichen Weihnachtsmesse waren Tayeb und ich durch die Gassen des Souks zum Hafen geeilt. Doch war es uns wirklich gelungen, unserem Verfolger zu entkommen?
Ich sah zum Hafenkai hinüber. Wie viele antike Gebäude war der Pharos nur noch eine Ruine. Vor über hundert Jahren war er nach einem Erdbeben eingestürzt. Und dort drüben hatte die von König Ptolemaios gegründete Bibliotheca Alexandrina gestanden. Die bedeutendste Akademie der Welt, in deren lichtdurchfluteten Lesesälen und schattigen Wandelgängen die berühmtesten Wissenschaftler geforscht und gelehrt hatten.
Ptolemaios, der Alexander dem Großen bis nach Indien folgte und sich nach dessen Tod zum Pharao von Ägypten machte, hatte einen Brief an die Herrscher des Erdkreises gerichtet, damit sie ihm alle Bücher der Welt für seine Bibliothek schickten. Ptolemaios hegte einen Traum, nicht weniger großartig als der seines die Welt erobernden Freundes: das gesamte Wissen von Himmel und Erde vereint an einem Ort. Jede Schriftrolle, die an Bord eines fremden Schiffes nach Alexandria kam, wurde kopiert - nur die Abschriften wurden den Besitzern zurückgegeben. Bald umfasste die Bibliothek Tausende, Zehntausende, Hunderttausende von Papyrusrollen.
Ein Rätsel hielt mich seit Jahren in Atem: Wohin war der kostbarste Schatz der Menschheit, die sechshunderttausend Bücher umfassende Bibliotheca Alexandrina, verschwunden?
»... und auch Plutarch ...« Ich hatte das Werk des griechischen Historikers aus dem Bücherregal gezogen und aufgeschlagen vor Cosimo auf den Tisch gelegt. »... auch er berichtet, dass die Bibliothek 48 vor Christus zerstört worden sei, als Caesar während des Bürgerkrieges zwischen Kleopatra und ihrem Bruder die Schiffe im Hafen von Alexandria in Brand steckte.«
Cosimo, der mich stirnrunzelnd beobachtet hatte, nickte ernst. »Ich weiß, was Plutarch geschrie...«
»Doch weder Caesar noch Cicero oder Philon von Alexandria erwähnen die angebliche Vernichtung der größten Bibliothek der Welt.«
Mit verschränkten Armen hatte Cosimo sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt. Ahnte er, worauf dieser Disput in seinem Studierzimmer hinauslief?
Wie oft hatten wir solche Gespräche geführt, bevor ich
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