Fossil
aber es ist eben so. Deacon und all die wirren Dinge, die er erzählt, wenn er genug getrunken hat. Die Geschichten über Atlanta und all die unheimlichen Sachen, die er da erlebt haben will, davon hat sie nie etwas geglaubt. Aber jetzt ist selbst er ganz nervös, weil dieses Mädchen wirklich lebt und atmet und hier sitzt und ihn ansieht.
«Ich träume von dir», sagt Chance. «Seit Monaten träume ich nun schon von dir.»
«Kriegst du Angst von den Träumen?», fragt das Mädchen und beugt sich plötzlich vor, eine schnelle Bewegung, und die Wache tritt vorsichtshalber einen Schritt näher.
«Manchmal.» Chance versucht, sich an die Dinge zu erinnern, die sie auf jeden Fall noch sagen will, Dinge, die sie sich immer und immer wieder vorgesagt hat, damit sie sie nicht vergisst. Sie schaut zu Deacon, aber der hat nur Augen für Dancy, starrt, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt und als könnte sich das Albinomädchen im nächsten Augenblick in Luft auflösen.
«In meinen Träumen bist manchmal du es, die Angst hat, Dancy, und nie kann ich dir helfen, ganz egal, wie sehr ich es auch versuche.»
«Sie geben mir diese Tabletten, damit ich keine Angst mehr habe», sagt das Albinomädchen und schaut wieder zur Wache. «Manchmal spucke ich sie aus. Die helfen nämlich auch nicht.»
«Dancy, du musst mir sagen, wovor du solche Angst hast und warum ich immer von dir träume. Bitte, falls du es weißt, sag es mir.»
«‹Es gibt Dinge von denen ich nicht sprechen darf›», sagt das Mädchen und reibt seine Hände aneinander, als wäre ihm kalt. «Ich habe Sachen gemacht, Chance. Ich habe so viel getan, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, Chance.»
«Nein», sagt Chance und beugt sich nun auch vor, drückt die linke Hand gegen das Plexiglas, und so hätte sie weinen müssen, als ihr Großvater beerdigt wurde, in der Nacht, als ihre Großmutter sich umgebracht hat, so wie Chance in ihrem ganzen Leben noch nicht hat weinen können.
«Ich wollte dir nur sagen, dass jetzt alles in Ordnung ist, Dancy, weil du mich in meinen Träumen nicht zu hören scheinst, also tue ich es jetzt, wo wir beide wach sind und du mich hören kannst.»
«Ich versuche, mich wach zu halten», sagt das Mädchen und weint nun ebenfalls. «Aber sie geben mir hier diese Pillen.»
«Schlafen ist in Ordnung, Dancy. Wahrscheinlich soll ich dir das sagen, deshalb träume ich von dir. Was immer auch geschehen ist, ganz egal was, du brauchst keine Angst mehr zu haben.»
Plötzlich gibt das Mädchen einen knurrenden, wehklagenden Laut von sich, wie ein eingesperrtes oder sterbendes Tier, das Schmerzen leidet und nicht weiß, ob die Qual jemals eine Ende hat. Und Dancy schlägt den Hörer mit aller Kraft gegen die Plexiglaswand, sodass er an einem Ende zerbricht und ein Regen gezackter schwarzer Scherben niedergeht. Chance zuckt zusammen.
«Ich habe kein Angst», keift das Mädchen, schleudert die Worte heraus wie Steine oder scharfe Messer. Dabei schlägt sie weiter mit dem kaputten Hörer auf das Plexiglas ein. Von ihren Fingerknöcheln blutet es, das Blut verteilt sich auf der Scheibe hin und her. «Ich bin Feuer- und Stahlschwingen», sagt es. «Ich bin sämtliche brennenden Schwerter, und ich versuche dich zu vergessen, Chance, ich versuche ganz fest, dich zu vergessen.»
Die Wache hat sich auf Dancy geworfen und zerrt das Albinomädchen fort, kämpft dabei mit ihm, und nach ein paar Sekunden kommt noch eine zweite Frau dazu, eine Frau mit einer Spritze. Chance will wegsehen, will sich umdrehen und flüchten, als die Nadel in die weiße Haut des Mädchens sticht. Dann steht der Pfleger, der sie hergeführt hat, hinter Deacon und Chance. «Sie sollten jetzt beide gehen, Miss Matthews», sagt er mit einer Stimme wie Samtimitat.
«Das habe ich nicht gewollt», sagt Chance. «Das weißt du doch, Deke. Ich wollte ihr niemals wehtun.»
Deacon zieht ihre Hand fort vom Plexiglas und umschließt sie fest mit seiner.
«Es ist nicht deine Schuld», sagt er und legt den Arm um sie. «Für solche Scheiße kann niemand etwas, Chance.» Noch einen Moment, dann hat das Wachpersonal Dancy Flammarion fortgebracht, und der Pfleger führt die beiden eilig vom Besuchsraum fort über den Flur, der schließlich wieder in den Tag mündet.
DANKSAGUNG
Zunächst möchte ich Dr. Riccardo Levi-Settis Buch Trilobiten (2. Ausg. 1993, University of Chicago Press) würdigen, das für den vorliegenden Roman als unverzichtbare Quelle diente.
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