Fossil
linken Handgelenk, die Rasierklinge in ihrer rechten Hand, ein dunkelroter Fleck auf dem Stahl. Auf dem Rand der Badewanne steht das halbleere Tablettenfläschchen.
«Ich dachte nicht, dass du kommst», sagt Elise, ihre Stimme heiser, kaum lauter als ein Flüstern. «Ich habe nie gedacht, dass du wirklich kommen würdest.»
Chance greift sich eines der dünnen Motelhandtücher, die auf dem Ständer neben dem Waschbecken hängen, Frottee, das vielleicht einmal weiß war, vor langer Zeit. «Gib mir die her», sagt sie, und als Elise regungslos sitzen bleibt, nimmt Chance ihr die Rasierklinge einfach weg, lässt sie ins Waschbecken fallen und wickelt Elise das Handtuch als Druckverband fest ums Handgelenk. Dann mustert sie die bernsteinfarbene Tablettenflasche auf dem Badewannenrand, die orange-weißen Kapseln darin. «Wie viel von dem Dreck hast du genommen?»
Elise schluchzt etwas, das Chance nicht verstehen kann, eine Entschuldigung oder Reuebekundungen, und Chance schüttelt sie heftig, schüttelt sie, bis sie eher wütend aussieht und nicht mehr ängstlich. «Wie viele hast du genommen, Elise?», fragt sie noch einmal.
«Das weiß ich nicht, okay? Ich kann mich verdammt nochmal nicht erinnern.» Chance wartet nicht mehr, bis Elise es versucht, holt sich die Flasche, läuft zum Telefon auf dem Tischchen zwischen den Betten und wählt den Notdienst, liest sich selbst die Inhaltsstoffe des Zeugs vor, damit sie bereit ist, sobald jemand rangeht, Pamelor, 75 mg pro Pille. «Beweg dich ja nicht, Elise», schreit sie in Richtung Badezimmer.
Und da fällt ihr das Albinomädchen auf, das sie von der offen stehenden Zimmertür aus beobachtet, es ist ein so starkes und plötzliches Déjà-vu-Erlebnis, dass Chance schwindlig wird und sie sich aufs Bett setzen muss, weil sie sonst hinfallen würde.
«Ich hatte die Tür abgeschlossen, wie zum Teufel bist du reingekommen?»
«Das hier ist falsch», sagt das Mädchen und macht einen Schritt auf Chance zu. «Hier hat das Ganze nicht angefangen.»
«Ich weiß nicht, wer du bist», knurrt Chance, «und ich habe auch keine Ahnung, wovon du redest. Aber ich will, dass du augenblicklich verschwindest.» Chance schreit ins Telefon, schreit das Telefon an, weil am anderen Ende noch immer niemand abgenommen hat, fünfmal hat es schon geklingelt, und noch immer ist niemand dran.
«Das war Sadies Idee», sagt das Albinomädchen. «Sie sind sehr, sehr alt, und sie wissen, dass du ihnen gefährlich werden kannst. Sie wissen jetzt alle, dass wir ihnen gefährlich werden können, wenn es sein muss. Aber das ist gar nicht notwendig, ich habe mich geirrt…»
«Hebt das verdammte Telefon ab!», schreit Chance in den Hörer. Aus dem Badezimmer ist ein platschendes Geräusch zu hören, und Chance erinnert sich an die Rasierklinge im Waschbecken.
«Du kannst Elise nicht von hier aus retten. Hier ist es schon zu spät. Ihr wisst beide, was unter dem Berg ist. Ihr habt es bereits gesehen.» Dann steht das Mädchen mit der mehlweißen Haut und den Maisbart-Haaren auf einmal direkt vor ihr und nimmt Chance das Telefon aus der Hand, entwindet es ihren Fingern.
«Sie stirbt da drinnen», sagt Chance und sucht nach Worten, damit das Mädchen es begreift, will ihm die Flasche Pamelor zeigen, aber dabei lässt sie sie fallen, und die Kapseln rollen heraus und verteilen sich auf dem Bett.
«Hör mir zu, Chance. Es geht von hieraus nicht.»
Chance greift wieder nach dem Telefon, aber diesmal verpasst das Mädchen ihr eine Ohrfeige, schlägt sie so heftig, dass Chance Blut schmeckt und ihr der Kopf zurückfliegt, dann löst sich das Motelzimmer um sie herum auf wie ein schlechtes Aquarell im Regen…
… flüssige Feuertropfen, die vom Himmel fallen, falls es einen Himmel gab oder geben wird, irgendetwas, das Chance als Himmel bezeichnen würde. Und sie steht irgendwo, irgendwann, überall und nirgendwo, steht da, während die weißen Sterne um sie fallen.
«Jetzt ist es fast vorbei», flüstert jemand. «Hab keine Angst.» Die Stimme klingt tröstlich und nah, so vertraut, trotzdem weiß Chance, dass sie sie nie zuvor gehört hat, es ist die Stimme vom Tag nach ihrem Tod oder dem Tag vor ihrer Geburt. Sie hebt das Gesicht, um zu sehen, wie die Lichter aus dem Schlund auf sie niederströmen. Es sind die hellsten und schönsten Dinge, die sie je erblickt hat, eine Schönheit, die ihr das Herz bricht, weil sie weiß, dass sie sterben müssen, allesamt, und eine Schönheit, für die man
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