Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
aber die Bühne hielt so viele Leute nicht aus und fing an zu schwanken. Ich rief zu meinem Lehrer hinüber: »Runter!« Unsere ganze Truppe bewachte die Leiter, sie ließen Vater nicht hoch. Er stampfte wütend mit den Füßen und schrie: »Du kleiner Scheißkerl, bist du lebensmüde!?«
Er hatte es noch nicht gesagt, als auf der anderen Bühne mein Gegenspieler erschien. Diesmal ging es darum, wessen Klagegesang der bessere war.
Mein Gegner schlug sich heftig auf die Brust und ließ eine Stimme hören, die rau war wie die eines Ochsen, die Bravo-Rufe aus dem Publikum rissen gar nicht mehr ab.
Aber ich dachte nur daran, wenn ich diesmal verliere, dann wird auch mein Vater, mit meinem verletzten Lehrer seines Gehilfen beraubt, nicht weitermachen können. Wir hatten so vielen Freude gebracht und hatten für so viele getrauert, und jetzt sollten wir fern der Heimat auf diese Weise abtreten! Wann würde diese Quälerei endlich ein Ende haben? Wegen eines Bettlers sollte unsere Truppe sich auflösen müssen! Und dann? Wo sollten wir unseren Lebensunterhalt verdienen? Wenn wir keine Musik machen konnten, mussten wir betteln gehen, und dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir so abtraten wie der Bettler dort im Sarg …
Über diesen Gedanken wurde ich trauriger und trauriger, ich verlor meinen ganzen Lebensmut und fing an zu weinen. Ich blickte mit großen Kuhaugen zum Himmel, ich schaute direkt in die Sonne und blinzelte nicht einmal. Ich wusste nichts mehr, ich hörte nichts mehr, ich erhob eine Klage, die nichts mehr Menschliches hatte, ich schlug und trat mit Händen und Füßen um mich, als wolle ich mich mit dem alten Himmelsvater um mein Leben anlegen. Auch auf mich wurde mit der Schleuder geschossen, es knallte ein paar Mal, ich wurde getroffen, mein Kopf dröhnte, unter Aufbietung meiner letzten Kräfte hielt ich das Gesicht zum Himmel, Hauptsache, es fing nicht an zu bluten …
Und so schwenkten und schwenkten sie die weiße Fahne meines Sieges, aber ich bekam es nicht mit.
Erst später erfuhr ich, dass mein Gegner recht schnell heiser geworden war. Ich hatte eine ganze Viertelstunde mutterseelenallein vor mich hin geklagt, und das so herzzerreißend, dass der ganze Platz sich in eine einzige heulende Masse verwandelte. Selbst die Leute vom Paoge-Bund wischten sich die Tränen und schluchzten: »Der Kleine da oben, es ist einfach zu traurig, wir haben seinen Leuten Unrecht getan, das war nicht richtig!«
LIAO YIWU:
Dann müsst Ihr ihnen aber wirklich das Herz gerührt haben! Großvater, Ihr seid ja schon in jungen Jahren ein Held gewesen!
LI CHANGGENG:
Ach was, Held! Wenn ich das getan habe, dann nur, weil ich mit dem Rücken zur Wand stand. Es war nicht leicht, sich seinen Bereich zu erkämpfen, aber klein beigeben kam nicht in Frage. Im Jahr der Befreiung, also 1949 , starb mein Vater, ich musste ihn in fremder Erde begraben, aber es dauerte nicht lange und ich heiratete in eine ortsansässige Familie ein und konnte nicht mehr weg.
LIAO YIWU:
Und die ganzen Jahrzehnte seid Ihr nicht mehr zu Hause gewesen, Ihr habt keine Verwandten besucht?
LI CHANGGENG:
Ich war sogar ziemlich oft zu Hause, ich habe in der Heimat einen ganzen Haufen Verwandtschaft. Trotzdem, ich bin hier in Sichuan längst heimisch, diese Gegend ernährt ihre Menschen. Und auch wenn die Zeiten sich geändert haben und es mit unserem Gewerbe bergab geht, die Jahre hier waren schwer, aber sie waren auch voller Freude.
LIAO YIWU:
Habt Ihr nach der Befreiung den Beruf gewechselt? Oder konntet Ihr während politischer Kampagnen wie der »Zerschlagung der Vier Alten Übel« [1] und der Kulturrevolution [2] weiter Eurem Gewerbe nachgehen?
LI CHANGGENG:
Ich habe den Beruf nicht gewechselt. Wir haben nur andere Stücke gespielt: Lieder zur Befreiung und Bauerntänze – unsere Trauermusiktruppe hat ihre Identität gewechselt, die Suonas spielten jetzt »Klar ist der Himmel über den befreiten Gebieten« [3] .
Mit den damit einhergehenden politischen Kampagnen war es das Gleiche; wenn man die Massen mobilisieren will, kann man nicht auf die Kunst verzichten. Wir haben gespielt, was die Führung bestimmt hat, ein Künstler braucht drei Mahlzeiten am Tag und nachts ein Dach über dem Kopf, da ist keine Zeit für Unzufriedenheit.
Ich sage Ihnen, als von 1959 bis 1961 während der drei schlimmen Jahre [4] die Leute landstrichweise verhungerten, spielte ich weiter Melodien von der großen Harmonie unter dem Himmel. Wenn man zu
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