Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Vorwort
Es gehört zum Aufregendsten, was ein Buch bieten kann: das Vernehmen einer neuen Stimme – und Liao Yiwu lässt uns gleich mehr als zwei Dutzend origineller Stimmen vernehmen, die auch wirklich etwas zu sagen haben. Liao ist unerschrockener Beobachter und unbeirrbarer Chronist zugleich, ein Vor-Ort-Reporter und kunstvoller Geschichtenerzähler, Historiker mündlicher Geschichte, begabter Schauspieler, Volkskundler und Satiriker. Vor allem aber ist er ein Mittler für ganze mit einem Maulkorb versehene Gruppen der chinesischen Gesellschaft, deren Existenz die Partei am liebsten leugnen würde: Strichmädchen, Outlaws und Straßenkünstler, öffentlich Abtrünnige und Behinderte, Leute, die, in doppeltem Sinn, mit menschlichem Abfall Geschäfte machen, Künstler und Schamanen, Gauner und selbst Kannibalen – und jeder von ihnen ist ehrlicher als all diese offiziellen Aufzeichnungen des chinesischen Lebens, die vom Staat herausgebracht werden im Namen des »Volkes«.
Liao selbst haben bitterste Erfahrungen zum Schriftsteller geformt: Als Kind wäre er fast verhungert, und sein Vater wurde als Feind des Volkes gebrandmarkt; er wurde ins Gefängnis geworfen für Gedichte, die die Wahrheit sagten über die Kommunistische Partei Chinas, er wurde im Gefängnis misshandelt, weil er sich weigerte, den Mund zu halten; und im Gefängnis entdeckte er, wie ungeheuer wertvoll es ist, Menschen zuzuhören, die die Behörden, wie ihn selbst auch, am liebsten für immer zum Schweigen gebracht hätten. So schreibt Liao wie ein Mensch, der den Verlust kennt und ihn nicht fürchtet. Es gibt nichts, was seine Aufmerksamkeit mehr erregt als das offizielle Verbot, von etwas Notiz zu nehmen, nichts, was ihn hellhöriger macht als das offizielle Taubstellen, nichts, was ihn mehr dazu bringt, uns die Augen zu öffnen, als die Blindheit, die uns die kommunistische Bürokratie auferlegen will.
Aber es ist nicht nur Trotz und es ist kaum politische Polemik, was die von ihm gesammelten Geschichten so lebendig werden lässt. Die Begegnungen Liaos mit seinen Protagonisten werden so eindringlich, weil er mit deren Menschlichkeit sympathisiert, so verquer sie auch zum Ausdruck kommen mag, und weil er in grundlegendster Weise Respekt zeigt für seine Personen: Er lässt sie für sich selbst sprechen.
Es ist keine Frage, Liao ist einer der originellsten und bemerkenswertesten Schriftsteller, die China zur Zeit hat. Besser gesagt, einer der originellsten und bemerkenswertesten Schriftsteller, die wir heute haben, kommt aus China. Ja, seine Sprache ist Chinesisch, sein Land und sein Volk sind sein Thema, und seine Geschichten sind Geschichten von intensiven Begegnungen auf dem Land. Aber selbst für jemanden, der nie in China gewesen ist und der von Liaos Arbeit nur durch Übersetzungen erfahren kann, haben diese Geschichten eine Unmittelbarkeit und Intimität, die über alle Grenzen und Kategorisierungen hinausgeht. Sie gehören zum großen Erbe der Weltliteratur.
Liao Yiwu ist einzigartig, aber man kann sicher sein, dass so unterschiedliche Autoren wie Mark Twain, Jack London, Nikolai Gogol, George Orwell, François Rabelais und Primo Levi in ihm einen Bruder im Geiste und in litteris anerkannt hätten. Er ist ein Direktor im menschlichen Zirkus, und seine Arbeit ist eine mächtige Mahnung: Nicht nur in die sichtbaren und lauten Wortführer der Macht, sondern auch in die Ausgegrenzten, Übersehenen und Ungehörten ist unsere Geschichte auf das Sprechendste eingeschrieben.
Philip Gourevitch
November 2007
Philip Gourevitch, geboren 1961 in Philadelphia, ist Redakteur der Zeitschrift »The Paris Review« und langjähriger Autor des »New Yorker«. Mit seinem Buch über den Völkermord in Ruanda erregte er 1998 großes Aufsehen und gewann zahlreiche Preise. Zuletzt veröffentlichte er »Die Geschichte von Abu Ghraib« (zus. mit Errol Morris).
Zur Einführung
Die Stimme der gesellschaftlichen Außenseiter Chinas
Als die chinesische Regierung in der Nacht vom 3 . Juni 1989 in Peking Panzer einrollen ließ und die Demokratie-Bewegung der Studenten brutal niederschlug, war Liao Yiwu zu Hause, im Südwesten der Provinz -Sichuan. Die Nachrichten erschütterten ihn in den Grundfesten. Über Nacht verfasste Liao ein langes Gedicht mit dem Titel »Massaker« und schilderte in drastischen Bildern die Ermordung unschuldiger Studenten und Bürger, und das so lebendig wie Picasso die Bombardierung von Guernica durch die Nazis.
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