Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
zum Leben, es gab zu viele Straßenräuber und Banditen, zu viele marodierende Soldaten, da stand keinem der Sinn nach Oper. Als mein Vater nicht mehr weiter wusste, schlug mein Lehrer vor, die Truppen der Musiker und der Sänger zusammenzuschließen. Die Lebenden mochten keine Oper mehr hören, aber es war unmöglich, die Toten ohne Leichenbegängnis zu bestatten.
Mein Vater war einverstanden, die beiden waren schließlich Blutsbrüder, was sollte da schief gehen?
Außerdem, zusammen waren wir weit über zehn Mann, und wenn man sich gemeinsam durchschlägt, verliert man nicht so schnell den Mut.
Mein Vater spielte nicht die Suona, aber er hatte eine kräftige Stimme. Wenn er sie auf dem flachen Land erhob, konnte man ihn meilenweit hören. Außerdem mussten Opernsänger auch ein gutes Dutzend Klagelieder beherrschen – und damit war es viel einfacher, einen Happen zu verdienen als mit Opernarien.
LIAO YIWU:
Welche Klagelieder meint Ihr?
LI CHANGGENG:
Das waren Lieder wie »Das Seelengeleit«, »Das Seelengefolge«, »Das Requiem«, »Der Seelenruf«, »Der Abschied der Lieben«, »Die große Trauer«, »Die kleine Trauer«, »Das Lob von Himmel und Erde«, »Der Übergang«, »Das Grabgeleit«, »Die Grablegung«, »Die Rückschau«, »Das zerrissene Herz«, »Ach, vom Herzensgrund«.
Diese werden von Generation zu Generation weitergereicht, unsere Vorgänger haben Tausende und Abertausende von Malen an ihnen gefeilt und gefeilt – wo die Melodie steigt, wo sie fällt, wo die Stimme heiser klingen, wo sie erhoben werden soll, wo trocken, wo unter Tränen geklagt und wo der ganze Körper stumm erzittern soll, das alles ist sorgfältig abgestimmt.
Die meisten Angehörigen verlieren angesichts ihres Toten die Kontrolle, sie brechen in lautes Wehklagen aus, sie werden vom Schmerz überwältigt und fallen in Ohnmacht oder erleiden einen Schock. Doch wenn wir erst einmal in der richtigen Stimmung sind, kontrollieren wir uns mit Leichtigkeit und klagen gerade so viel, wie wir möchten. Wenn es sich um eine große Trauerfeier handelt und das Honorar sich sehen lassen kann, dann wird an Ort und Stelle auch improvisiert.
LIAO YIWU:
Wie lange hat Eure längste Totenklage gedauert?
LI CHANGGENG:
Zwei Tage und zwei Nächte. Die Suona gab das Zeichen, unsere Truppe ließ alles stehen und liegen, legte die Trauerkleider aus Leinen an und verbeugte sich in Reih und Glied drei Mal vor der Ahnentafel des Verstorbenen. Darauf folgten neun Kotaus und zwei oder drei Runden des Weinens, Heulens und Klagens. Das alles ist ein ziemliches Durcheinander – oberflächlich betrachtet. Aber wenn man ein, zwei Stunden lang genauer hinsieht, erkennt man die Ordnung dahinter. Wenn zum Beispiel Sie heulen und ich klage, dann ist das so, als würde ich arbeiten und Sie Pause machen. Während das Weinen nur den Übergang bildet entweder zur richtigen Arbeit oder zur Pause. In diesem Geschäft sind die Stimmen unser Kapital, und wenn es noch so herzzerreißend klingt, dieses Kapital wird auf keinen Fall beschädigt.
LIAO YIWU:
Drängt Ihr Euch damit nicht in den Vordergrund? Verdrängt da die gemachte nicht die echte Trauer?
LI CHANGGENG:
Suona wie Klagelieder gehen einem sehr unter die Haut, das schafft Atmosphäre. Freud und Leid sind ansteckend wie eine Krankheit und springen sehr schnell von einem Li Changgeng auf die anderen über. Natürlich spielen die nächsten Angehörigen, die Söhne und die Töchter die Hauptrolle, aber wenn sie von Gefühlen übermannt werden, geht ihnen die Kraft aus. Am Ende haben die Hauptakteure oft den Ort des Geschehens schon verlassen, bevor die Statisten richtig ins Spiel kommen. Offen gesagt sind es immer die nicht wirklich Trauernden, die bis zum Ende durchhalten. Früher war das anders als heute, wenn heute das Seelenzelt aufgebaut ist, stellt man manchmal ein Dutzend Mah-Jongg-Tische auf und hat während der Totenwache nichts anderes im Sinn, als um Geld zu spielen, selbst die oberflächlichsten Beileidsbekundungen werden vergessen.
LIAO YIWU:
Aber früher hat man die Totenklage auch nicht zu Ende gebracht, nicht wahr? Sind da die Leute nicht auch in Ohnmacht gefallen? Außerdem wohnen die Menschen heute so dicht aufeinander, dass der Lärmpegel der Trauermusik über das erträgliche Maß hinausgeht und sich die Nachbarn wegen Ruhestörung beschweren.
LI CHANGGENG:
Daran kann man sehen, wie weit es gekommen ist! Früher hätte man das nicht sagen können. Selbst noch in den achtziger
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