Frau Schick räumt auf
können weder Thekla noch der liebe Gott – falls es den gibt, woran sie heute einmal wieder stark zweifelt – von einer achtundsiebzig Jahre alten halbblinden Greisin verlangen. So fühlt sich Frau Schick nämlich inmitten dieses Zirkustrubels.
Auf den letzten hundert Kilometern vor Santiago hat der Fußgänger- und Radverkehr bereits rasant zugenommen – der Ablassregel wegen, das versteht sie ja –, aber hier auf den letzten dreißig Kilometern vor Santiago wird es ihr zu bunt. Das ist ja schlimmer als am Kölner Hauptbahnhof, wenn der FC spielt. Und um Frömmigkeit geht es den wenigsten. Der Weg wimmelt nur so von Frohsinnspilgern und Ich-will-Spaß-Pilgerinnen, die mit nichts als einer Handtasche oder Plastiktüte, in Badelatschen oder auf schicken Keilabsätzen unterwegs sind. Allen möglichen Quatsch haben die dabei, um die letzten Meter zum Sündenablass möglichst vergnüglich zu bewältigen. Frau Schick hat schon Santiago-Fähnchen, Fanschals, Camcorder, Kühltaschen, Picknickkörbe, Sonnenschirme und Hunde mit bunten Jakobsmuscheln am Halsband gesehen. Ein Hund hatte sogar eine Sonnenbrille auf der Schnauze und fuhr in einem Radanhänger mit. Wenn das Quijote sehen würde, das gäbe ein Gebell! Aber Quijote ist zu Frau Schicks Betrübnis nicht mehr mit von der Partie, ebenso wenig wie Nelly und Herberger. Stattdessen marschiert sie hier mit lauter Schießbudenfiguren gen Santiago.
Wenn das Humor sein soll und dazu göttlicher, na danke!
Alle paar Hundert Meter wartet die nächste überfüllte Bodega oder Bar auf Pilger. Eine hieß »Zu den zwei Deutschen« und bot vor allem Pfannkuchen an. Paolo hat sie wärmsten empfohlen, aber Frau Schick hat das Gefühl, dass ihr Wanderführer in seiner Heimat Galizien so ziemlich alles empfiehlt – vom Stielkohl, der wie grüne Elefantenohren in den Bauerngärten sprießt, bis zu den Maisschobern, die wie Sarkophage auf Steinsäulen ruhen, damit die Mäuse nicht hochkommen, um Erntedankfest zu feiern. Das mag ja alles ganz pittoresk sein, aber deutsche Pfannkuchen! Was soll das? Die haben ihr gerade noch gefehlt, wo sie sich endlich mal auf eine Reise ins Ausland gewagt und mit Tortillas angefreundet hat.
»Was zu viel ist, ist zu viel«, teilt Frau Schick grimmig Bettina mit, als die zu ihr aufschließt. »Das hat doch rein gar nichts mehr mit Pilgern zu tun.«
»Frau Schick, wir haben Sonntag, die meisten Menschen hier sind keine Pilger, sondern Ausflügler, das sieht man doch an den Picknickkörben«, antwortet Bettina.
Ach so, denkt Frau Schick. Und trotzdem!
Bettina lächelt einem jungen Pärchen zu, das mit Kinderwagen auf einem Waldweg an ihnen vorbeijoggt und fröhlich » Buen camino!« ruft. Links und rechts des Weges wachsen Esskastanienbäume, die über und über mit puscheligen Früchten besetzt sind. Bettina klaubt sich eine Marone vom Baum, öffnet sie und bewundert die samtig ummantelte Frucht. »Ich find es sehr schön hier.«
»Kunststück, Sie sind ja auch verliebt.«
»Das hat damit nichts zu tun«, stellt Bettina richtig. »Es ist zur Abwechslung einfach angenehm, dass hier alle so munter und lebendig sind.«
Das war der traurige Rest von Paolos Gruppe in den letzten Tagen nämlich eher nicht. Alle haben einen heftigen Camino-Blues, weil der Abschied aus einer wie lose auch immer zusammengewachsenen Gemeinschaft naht. Nelly und Herberger fehlen bereits jetzt. Seit ihrem Verschwinden löst sich die Gruppe wie ein schlampig vernähter Wollpullover in ihre Bestandteile auf. Frau Schick bekommt die losen Fäden einfach nicht mehr zusammen. Und Bettina ist ihr keine große Hilfe. Seit zwei Tagen und dem Fest in Molinaseca ist kaum noch etwas mit ihr anzufangen. Wenn Frau Schick sich sorgt – wozu es genug Anlass gibt –, sieht Bettina nur rosarot. Verliebte finden eben alles schön, sogar sprechende Getränkeautomaten, die neben überquellenden Papierkörben direkt am Waldeingang stehen.
An so einem zieht sich Bettina gerade eine Cola und lacht verzückt, weil das » Gracias« der Automatenstimme in ihren Ohren ein bisschen wie Señor Viabadel klingt.
Ihren Lieblingsbasken entdeckt sie überhaupt in jedem Busch und Strauch, von denen es hier satt und genug gibt. Jeden und alles begrüßt sie mit einer Bemerkung wie »Ein Schlehenhag! Schlehen mag er ganz besonders gern!« oder »In dieser Bar gibt es Feigen mit Ziegenkäse, aber bestimmt nicht so köstlich zubereitet wie bei ihm«. Jede grüne Wiese, jede einzelne Kuh erinnert Bettina
Weitere Kostenlose Bücher