Frau Schick räumt auf
kurzen Blick und lehnt ab. »Nelly muss weiter«, sagt er.
Sie verabschieden sich und gehen zurück zum Jaguar. Scharfer Wind umpfeift sie und treibt Regen vor sich her. Herbergers Fleecejacke versagt ihren Dienst. Nelly friert erbärmlich und zieht die Jacke fester um sich. Herberger legt den Arm um sie.
Das ist völlig verkehrt, denkt Nelly, während sie gleichzeitig zu laufen beginnen, weil der leichte Regen sich in einen heftigen Schauer verwandelt. Völlig verkehrt! Nicht sie, sondern er braucht jetzt jemanden, der den Arm um ihn legt. Dieser jemand, das ahnt sie, heißt Penelope. Und sie weiß, dass Herberger vor allem eins will: dass sie ihn jetzt in Ruhe lässt. So wie er sie auf dem Weg nach El Acebo in Ruhe gelassen hat. Er will keine weiteren Erklärungen abgeben. Das hat er ja gerade dem ahnungslosen Enrique überlassen.
Der Weg löst sich in Pfützen auf. Nelly schüttelt Herbergers Arm ab, um sie überspringen zu können. Als sie den Wagen erreichen, sind sie ziemlich durchnässt. Sie steigen ein und fahren schweigend los. Endlich räuspert sich Herberger. »Haben Sie etwas gegen ein bisschen Musik?«
Nelly schüttelt den Kopf. »Nur bitte nichts Klassisches.« Sie denkt an Mozarts Jubilate , das sie gemeinsam mit Frau Schick nach ihrer Rettung aus dem Wald von Irati in diesem Auto gehört hat. Sie ist jetzt nicht in Halleluja-Stimmung.
»Ich habe etwas Besseres«, sagt Herberger und schlüpft schon wieder in die Rolle des Reiseführers. »Wir sind jetzt in Galizien, einer der schönsten Regionen von ganz Nordspanien, einem mysteriösen Land aus Grün und Nebel. Wenigstens musikalisch sollten Sie es besser kennenlernen, wenn Sie den Weg schon nicht beenden wollen.«
»Ich muss zu meiner Tochter.«
Herberger nickt. »Das habe ich Frau Schick auch gesagt, aber Sie wissen, wie sie ist. Sie hätte Sie gerne bis Santiago, nun ja … weiterbeschäftigt.«
Nelly schaut zum Fenster hinaus. Der Regen geht in Streifen nieder.
Herberger sucht eine CD heraus, legt sie ein und nimmt zugleich eine scharfe Kurve. Der Jaguar gerät ein wenig ins Schleudern, und Nelly klammert sich ans Armaturenbrett. Doch Nelly sagt nichts und lehnt sich wieder in den Sitz zurück.
Keltische Balladen begleiten sie auf dem Weg über die gefährlichen Gefällstrecken den Pass hinab. Herberger nimmt die Kurven nach dem kleinen Ausrutscher vorhin sehr konzentriert. In seinen Haaren glitzern Regentropfen. Sein Gesicht ist der Fahrbahn zugewandt.
Nelly wagt einen kurzen Seitenblick. Dieser Mann weint keine Tränen, das überlässt er der Musik, denkt sie. Soll er nur! Obwohl das ziemlich dumm ist. In etwa so dumm wie ihr Hang, sich das Leben und Liebesglück in bunten Filmbildern auszumalen. Sie sitzt hier nicht im Kino, sondern in einem Auto neben einem Mann, der Angst vor Bindungen hat. Mal wieder. Die Wirklichkeit hat erstaunlich wenige Farben, und manchmal ist sie schlicht schwarzweiß. Wenigstens das hat sie begriffen.
»Wer ist das?«, fragt sie und deutet auf den CD-Player.
» Luar na Lubre , die bekannteste galizische Folkmusic-Gruppe. Die Sängerin ist allerdings Portugiesin.«
Das beweist der nächste Track in höchst melodiöser Form. » Tu gitana«, singt die Portugiesin und fragt, ob sie dieses Abenteuer überleben wird. Und es geht nicht nur um die Liebe, sondern um Leben oder Tod, um Alles oder Nichts und darum, was man noch tun oder erhoffen kann, wenn die Seele Trauer flaggt, weil die Erde eine Hölle ohne Ausgang ist.
»Kennen Sie das?«, fragt Herberger beiläufig und starrt angestrengt geradeaus. »Ich mag dieses Lied.«
Jetzt ist es Nelly, die eigentlich weinen müsste und es bleiben lässt. Sie ist nicht mehr in Pamplona und will auch nie wieder dorthin. Sie sehnt sich nach Becky und ihrem eigenen Schlafzimmer, ihrem Bett und einer Decke, die sie sich über den Kopf ziehen kann, ihrer eigenen Decke. Darunter lässt es sich gut im Dunklen weinen.
58.
Also, dieser Rummel ist ihr jetzt gar nicht recht. Ganz und gar nicht. Was wollen all diese Flitzpiepen und Radaubrüder plötzlich auf dem Jakobsweg? Kirmes feiern? Frau Schick ist empört. So hat sie sich den Camino nun wirklich nicht vorgestellt. Oder eigentlich doch. Das war allerdings, bevor sie ihn gegangen ist. Und das ist sie ja nun, zumindest in Ansätzen. Manchmal allein, so wie sich das gehört. Sie hat unterwegs sogar in der Bibel gelesen, Kirchen besucht, an Wunder geglaubt und eine leise Ahnung davon bekommen, worum es auf dem Weg geht. Mehr
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