Frau Schick räumt auf
noch einmal mit einer kleinen Erpressung versucht.
»Frau Schick, ich habe Nelly genug gesagt. Sie hat sich – im Gegensatz zu Ihnen – entschieden, keine weiteren Fragen zu stellen und nach Düsseldorf zu fliegen. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich mich ab jetzt wieder allein um meine Angelegenheiten kümmern, und zwar hier in Santiago.«
»Doch nicht etwa mit dieser Penelope!«
Dazu hat Herberger geschwiegen. Das hat er wahrscheinlich auch auf seiner letzten Fahrt mit Nelly so gemacht, vermutet Frau Schick. Obwohl sie ihm klipp und klar zu verstehen gegeben hat, dass sie Nelly die Wahrheit über ihn und Paolo verraten würde, wenn er das nicht täte.
Dieser störrische Esel! Das kommt davon, wenn man seinen Angestellten zu sehr vertraut und sie an der langen Leine laufen lässt. Der Teufel soll ihn holen! Grimmig stößt sie die Stöcke in weichen Lehm.
Ach herrje, was ist denn das!
»Bettina«, ruft Frau Schick irritiert. »Feiern die Galizier im September Karneval?«
Sie deutet mit einem Wanderstock auf drei junge Spanier, die ihnen in Riesenschritten aus Richtung Santiago entgegeneilen. Sie tragen schwarze Ganzkörperanzüge. Auf dunklen Grund haben sie in grünlichweißer Farbe Skelette gemalt. Jeden Knochen einzeln, alle sitzen am richtigen Platz. »Wenn das Leuchtfarbe ist, werden die Dunkeln noch jemanden zu Tode erschrecken. Der Camino ist doch keine Geisterbahn!«
Bettina schüttelt den Kopf. »Natürlich nicht. Das sind nur junge Männer, die die Symbolik des Jakobsweges ein wenig zu wörtlich nehmen. Oder daran erinnern wollen, worum es hier geht.«
»Dass wir irgendwann alle mal abtreten, weiß ja wohl jeder«, schnauft Frau Schick empört. »Das ist noch lange kein Grund, damit Schabernack zu treiben oder für den Tod Reklame zu laufen.«
»Mir ist Goethes ›Stirb und werde‹ auch lieber als so ein Schaulauf«, gibt Bettina zu. »Schließlich geht es auf dem Camino zuallererst um Heilung. Um einen symbolischen Tod, um Abschiede, um Trennungen, um dunkle Krisen und Täler, die jeder Mensch in seinem Leben zu durchwandern hat, bevor er sich wandelt. Wenn man am Cap Finisterre, dem sogenannten Ende der Welt, hinter Santiago angekommen ist, stirbt bildhaft alles Alte in einem, überholter Schmerz, lähmende Ängste, falsche Glaubenssätze, um Platz für Neues zu machen. Das ist die Idee des Weges. Man überwindet Schmerzen unter Schmerzen. Und seien es nur wunde Füße.«
»Sie klingen ja schlimmer als Ernst-Theodor.«
»Es geht um Gesundung durch Abschied vom Falschen«, fährt Bettina unbeirrt fort. »Zu den schönsten, uralten Ritualen des Camino gehört es, seine Pilgerkleidung und die ausgetretenen Schuhe mit Blick auf das Meer zu verbrennen. Und dann folgen der Rückweg ins Licht und im besten Fall eine seelische Neugeburt.«
»Als wandelnde Leiche? Na danke. Die Knallköppe haben dann ja wohl gar nichts begriffen.«
Frau Schick schüttelt unwillig den Kopf. Bettinas Esoterik-Schwurbel war auch mal heiterer. Heilung durch Abschied. Pah, davon hat sie wahrlich genug gehabt in ihrem Leben! Dafür muss sie nicht quer durch Spanien laufen und lauter Menschen verlieren, die sie gerade liebgewonnen hat und von denen sie angenommen hatte, dass die sie … Ach, auch egal! Auf den letzten Lebensmetern kann man nun mal keine neuen Freunde finden und eine Familie wohl auch nicht.
Bettina seufzt. »Ich verstehe ja, dass Sie schlechte Laune haben, weil Nelly weg ist, Frau Schick, aber spätestens in Santiago werden Sie dafür etwas von Johannes hören und von seiner Familie.«
Manchmal kann diese Frau wirklich Gedanken lesen. »Und wenn nicht?«, quengelt Frau Schick. »Dann habe ich den ganzen Weg umsonst gemacht.«
»Thekla hat in ihrem ersten Brief angekündigt, dass in Santiago Nachrichten auf Sie warten, und bis jetzt hat sie Sie nicht enttäuscht.«
»Ha«, sagt Frau Schick nur.
»Sie hat getan, was sie kann, um ihren Fehler wiedergutzumachen«, beharrt Bettina.
»Ich hätte mich trotzdem mal besser weiterhin an Ringelnatzens Hamburger Ameisen gehalten, die nach Australien reisen wollten. ›In Altona auf der Chaussee taten ihnen die Beine weh, und da verzichteten sie weise auf den weiteren Teil der Reise‹«, rezitiert Frau Schick.
»Das stimmt doch nicht«, protestiert Bettina.
Das hat der Paul auch immer gesagt, wenn Frau Schick darauf bestanden hat, lieber zuhause zu bleiben. Und eines Tages hat er mit Ringelnatzens Sauerampfer gekontert, der am Bahndamm wächst und anderen
Weitere Kostenlose Bücher