Frau zu sein bedarf es wenig: Roman (German Edition)
gegenüberliegenden Ende des Flurs befand sich der Eingang zu ihren Privaträumen. Arbeiten und Wohnen am selben Ort – Kristina genoss diesen Zustand. Sie hatte das Haus nach der Scheidung von Peter behalten. Schließlich war es ihr Elternhaus, in dem Peter und sie jahrelang gewohnt und eine Familie gegründet hatten. Ihre Eltern hatten ihr damals das freistehende Eigenheim im Münchner Stadtteil Altperlach überschrieben und waren in die Wohnung in der Innenstadt gezogen, in der bislang Kristina und Peter gewohnt hatten. Dieser Tausch hatte für alle Parteien nur Vorteile gehabt.
Es war ein ganz normales Haus, wie es jedes Kind malen würde. Ein kleiner Garten umgab das Gebäude, und Kristina liebte es sehr. Alles um sie herum hatte sich verändert, aber diese Mauern hatten jedem Sturm widerstanden. Um nichts in der Welt würde sie dieses Haus aufgeben. Hier war sie bis auf wenige kurze Unterbrechungen seit ihrer Geburt zu Hause. Nachdem sie Peter kennengelernt hatte, war sie mit ihm zusammengezogen. Aber mit der Schwangerschaft war sie in ihr Elternhaus zurückgekehrt.
Für Kristinas Eltern hatte die kleinere Wohnung weniger Aufwand und mehr Freiheit bedeutet. Statt eines Gartens hatten sie nun einen Balkon gehabt, auch das Treppensteigen war unnötig geworden. Kristina und Peter wiederum hatten nach der Geburt der Zwillinge mehr Platz gebraucht. Einen Garten für die Kinder zu haben, war ihr damals wie ein ganz besonderer Luxus vorgekommen.
Nach der Trennung hatte Peter dann freiwillig das Feld geräumt und hatte sich eine neue Wohnung im Münchner Nobelviertel Bogenhausen gesucht. In der ersten Zeit hatte Kristina ihn um die Veränderung beneidet. Er hatte komplett neu anfangen können, während sie am gewohnten Ort zurückgeblieben war, wo sie Tag für Tag die Erinnerungen eingeholt hatten. Damals hatte sie manchmal davon geträumt, einfach alles hinzuwerfen und woanders hinzuziehen. Aber wegen der Kinder hatte sie diese Idee nie ernsthaft weiterverfolgt. Es reichte ja schon, dass die Familie zerbrochen war. Da hatte sie Sophie und Philipp nicht auch noch das vertraute Umfeld wegnehmen wollen. Eine gute Entscheidung, wie sie heute empfand.
„Mudder Deresa“, hatte Ritas einziger Kommentar dazu gelautet.
Kristina war geblieben, Peter war gegangen. Sie hatte nicht ausziehen müssen. Trotzdem war sie durch die Trennung in ein völlig neues Leben katapultiert worden. Sophie und Philipp waren zwar schon aus dem Gröbsten heraus gewesen, aber dennoch hatte die Scheidung neue Tatsachen geschaffen – auch finanziell. Erst nach einigen Anfangsschwierigkeiten war es Kristina gelungen, sich mit der neuen Situation anzufreunden und das Beste daraus zu machen.
Dazu hatten der Umbau und die Eröffnung ihrer Massagepraxis gezählt. Sie hatte den Beruf gelernt, aber ihn mit der Geburt der Zwillinge aufgegeben. Um nach der Trennung ihre Kenntnisse aufzufrischen und die neuesten Trends zu lernen, hatte sie ein paar Schulungen und Kurse besucht. Danach war sie durchgestartet. Für die Behandlungsräume im Erdgeschoss hatte sie einen separaten Eingang bauen lassen. Ihre Patienten sollten ja nicht durch ihr Wohnzimmer in die Praxis marschieren. Damals hatte sie die Umbauarbeiten bewusst klein gehalten, denn für größere Maßnahmen hatten ihr Geld und Mut gefehlt. So hatte sie nur das Allernötigste in Angriff genommen. Inzwischen war ihre Praxis in die Jahre gekommen. Eine Modernisierung war eigentlich dringend notwendig, doch bislang hatte sie sich nicht dazu durchringen können.
Nun betrat Kristina durch die Verbindungstür in der Praxis das Treppenhaus und stieg hinauf in die Privaträume, die sich allesamt im ersten Stockwerk und unterm Dach befanden. Früher hatten hier Sophie und Philipp gewohnt. Aber die beiden gingen inzwischen eigene Wege.
Vor zwei Jahren hatte Philipp seine Sachen gepackt und war in eine kleine Wohnung in der Nähe der Uni gezogen. Zurzeit bereitete er sich auf seine Zwischenprüfungen vor. Ein Gefühl von Stolz und Glück durchströmte Kristina, als sie an ihren Sohn dachte. Für sein Alter – er war gerade 22 geworden – besaß er eine Zielstrebigkeit, die Kristina immer wieder in Erstaunen versetzte. Philipp wusste genau, was er wollte. Im Gegensatz zu ihr selbst. Ein kleines Scheibchen von Philipps Mut, das wünschte Kristina sich. Als er ausgezogen war, hatte er sie dazu motiviert, sein früheres Jugendzimmer neu einzurichten. Es hatte jedoch einige Monate gedauert, bevor Kristina das
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