Isau, Ralf
DER ZAUDERER
Im Zaudern machte ihm so schnell keiner etwas vor. Karl war ein Experte im Verschleppen von Entscheidungen. An diesem Abend sollte sein Talent indes auf eine harte Probe gestellt werden. Der Novemberwind hatte ihm erst den Mut entrissen und zerrte nun gierig an seinem Mantel. Es dämmerte schon. Zum wiederholten Mal klappte der junge Mann seine Taschenuhr auf und haderte mit dem hastigen Minutenzeiger. Die Zeit verrann und mit ihr eine unwiederbringliche Gelegenheit. Er musste endlich zu einem Entschluss kommen.
Verstohlen spähte Karl zu dem erleuchteten Buchladen hinüber. Ein alter Mann mit schlohweißer Sturmfrisur saß hinter dem großen Schaufenster in einem Ohrenbackensessel und blätterte in einem großen Buch. Vermutlich Herr Trutz, dachte er. Konnte er sich überhaupt noch bei dem gewiss sehr akkuraten Buchhändler sehen lassen? Wer stellte denn einen Gehilfen ein, der sich schon zum Bewerbungsgespräch verspätete, und das um zwölf, nein, mittlerweile dreizehn Minuten? Hätte der Straßenbahnschaffner sich doch an seinen Fahrplan gehalten! Er war überhaupt an allem schuld, dachte Karl, bezweifelte jedoch selbst, dass er damit mildernde Umstände geltend machen konnte. Seit zehn Minuten stand er jetzt schon an der Backsteinmauer gegenüber dem Buchladen, blickte zu dem erleuchteten Schaufenster hinüber und wälzte die immer gleiche Frage im Kopf herum: Hatte es überhaupt einen Sinn, sich bei Herrn Trutz vorzustellen?
Ach, wenn er doch nur wie jene unerschrockenen Romanhelden wäre, von deren Abenteuern er so gerne las! Die wussten immer, was zu tun war, scheuten sich vor keiner kniffligen Entscheidung, strotzten vor Mumm und weckten ihre Lebensgeister, indem sie noch vor dem Frühstück einen feuerspeienden Drachen erlegten. Karl dagegen war schon seit dem Morgen wie betäubt. Dabei musste er keine schuppige Echse aufspießen, sondern nur einen alten Mann davon überzeugen, dass er, Karl Konrad Koreander, haargenau der war, den Herr Trutz mit seiner Zeitungsannonce gesucht hatte.
Karl zog einen Fetzen Papier aus der Tasche seines grauen Fischgrätmantels, schob mit dem Ringfinger die zierliche goldene Brille auf seiner Nase zurecht und las zum hundertsten Mal den Text:
Buchverkäufer
und
Nachfolger
für Antiquariat gesucht
Sie sind phantasievoll, fleißig, zuverlässig, lieben Bücher, können eigenverantwortlich arbeiten und haben Mut zu ungewöhnlichen Entscheidungen. Größere Herausforderungen schrecken Sie nicht.
Mit bestandener Probezeit werden Sie kommissarisch die Führung des Ladens übernehmen und ihn nach meinem Fortgang erben, sofern es dann weiterhin Ihr Wunsch und Wille ist, mein Lebenswerk fortzuführen. Junge Bewerber bevorzugt.
Bitte vereinbaren Sie mit mir telefonisch einen Termin
(Tel. 1 57 46).
Thaddäus Tillmann Trutz
»Mut zu ungewöhnlichen Entscheidungen! Größere Herausforderungen schrecken Sie nicht!«, schnaubte Karl. Er war das genaue Gegenteil von dem, was da geschrieben stand. Sein Selbstvertrauen hatte bestenfalls die Größe einer Walnuss. Wichtigen Entscheidungen ging er geschickt aus dem Weg. Phantasie, na gut, die mochte er schon haben. Und natürlich liebte er Bücher! Nur deshalb hatte er sich ja auf diese wahnwitzige Verabredung eingelassen. Aber Herr Trutz suchte wohl kaum einen Träumer, sondern einen zukünftigen Geschäftsführer: entschlussfreudig, unerschrocken. Karl schüttelte den Kopf, zerknüllte den Zeitungsausschnitt und stopfte ihn in die Tasche zurück. Zeit, nach Hause zu marschieren. Das hier war nichts für ihn.
Er hatte sich schon zum Gehen gewandt, als ein schepperndes Klopfen ihn zusammenfahren ließ. Mit eingezogenem Kopf drehte er sich zu dem Laden um, von dem das Geräusch gekommen war. Hinter der Fensterscheibe saß vorgebeugt der alte Mann. In seiner Rechten hielt er einen schwarzen Gehstock mit silbernem Knauf – damit hatte er wohl gegen das Glas geschlagen. Mit der freien Hand winkte er den Zauderer zu sich heran.
Karl tippte sich auf die Brust und formte mit den Lippen die Frage: Meinen Sie mich?
Der Alte nickte und winkte heftiger. Karl zögerte immer noch. Vielleicht wollte Herr Trutz – so er es denn war – ihm nur eine Standpauke halten, um ihn danach gleich wieder aus dem Laden zu jagen. Als sich der Buchhändler erneut mit seinem Stock Aufmerksamkeit verschaffte, zersprang unter seinem Gehämmer endlich Karls Unentschlossenheit. Eben schickte er sich an, die
Weitere Kostenlose Bücher